Filmkritik

The Cut – große Emotionen und eine grausame Geschichte

Drama um einen Überlebenden des Völkermordes an den Armeniern und seiner Kontinente umspannenden Suche nach seinen Töchtern. Deutschland 2014 – Regie: Fatih Akin – Darsteller: Tahar Rahim, Sesede Terziyan – FSK: 12 – Länge: 138 min.

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Western, aber auch große Abenteuer-Epen von Regisseuren wie Sergio Leone und David Lean, Filme von Martin Scorsese, dessen aus Armenien stammender Koautor Mardik Martin auch am Drehbuch mitwirkte, gehören zu den Vorbildern für Fatih Akins bisher aufwendigste Filmarbeit. Denn der in den 1910er bis 1920er Jahren angesiedelte Film ist nicht nur ein Geschichtsdrama, sondern erzählt auch zum großen Teil von einer Reise, die von Aleppo über Havanna bis in den Norden der USA führt.

Film-Trailer und Laufzeiten
Bild: Kinodreieck Augsburg

Der Film will „großes Kino“ sein. Die Kamera von Rainer Klausmann fängt starke Cinemascope-Bilder ein von weiten, kargen, in der Hitze glühenden Berglandschaften, durch die sich der Hauptdarsteller kämpft, zeigt enge Gassen in Havanna ebenso wie postapokalyptisches Szenario sterbender und toter armenischer Familien in einem Zeltlager. Der Film will das Publikum vor allem emotional packen – er ist ein Spielfilm in der Art eines Entwicklungsromans. Inwieweit das gelingt und was es bewirken kann, hängt allerdings sehr von der Verfasstheit des einzelnen Zuschauers ab – dazu am Ende mehr.

Ort der Handlung – Mardin 1915: In einer Nacht werden alle armenischen Männer von der türkischen Gendarmerie zusammengetrieben, so auch Nazaret Manoogian (Tahar Rahim), der mit seiner Frau und seinen Zwillingstöchtern im türkischen Teil des Osmanischen Reiches lebt. Der junge Schmied wird gewaltsam von seiner Familie getrennt und in die Wüste verschleppt, wo er Zwangsarbeit verrichten muss. Dann sollen die Arbeiter alle getötet werden – mit Messern, um Munition zu sparen. Nazaret überlebt durch viele glückliche Umstände mit durchtrennten Stimmbändern und befindet sich fortan auf der Flucht zunächst ohne bestimmtes Ziel. Er verliert alles, was er hat: seine Familie, sein Zuhause, seine Sprache. Nach einer regelrechten Odyssee erfährt der traumatisierte Armenier, dass auch seine tot geglaubten Zwillingstöchter überlebt haben. Von Liebe und Sehnsucht angetrieben begibt er sich auf eine rastlose Suche nach seinen Kindern. Die Spur führt ihn von der syrischen Wüste über Havanna bis in die Prärie North Dakotas.

Vorab zur Einstimmung zwei Kritiken aus unserem Kultur-, Denk- und Sprachraum, die – nach Auffassung des Autors – vor allem eine Sicht verdeutlichen: Thema und Film werden vom Standpunkt einer geradezu imperialistischen Arroganz ausschließlich einer elitären und egozentrischen „Kunstkritik“ unterworfen, die vor allem eines kann und will: Die Wahrnehmung beeinflussen, einschränken und auf den Regisseur/Schauspieler fixieren und reduzieren. Dass ein Spielfilm keine Dokumentation sein will und muss, sollte auch Filmkritikern bekannt sein – das schließt aber die Konkretisierung historischer Momente in den handelnden Personen nicht aus. Zum auch hierorts so empfundenen Reizthema „Völkermord an den Armeniern“ verlautet etwa die NZZ: „... Gänzlich unpolitisch ist dieser Film, von dem Akın wohl ursprünglich gehofft hatte, er würde einen breiten, lange überfälligen Diskurs auslösen. ... Seine Erwartung aber, man werde mit Steinen und Rosen nach ihm werfen, je nachdem, welchem Lager man angehört, wird sich wohl kaum erfüllen, denn zum Aufreger taugt der Film ebenso wenig wie zum Preisgewinner.“ In der SZ fragt uns Thomas Steinfeld scheinheilig objekiv – Zuschauer entscheide frei und unbeeinflusst: „Vielleicht ist die radikale Entpolitisierung der Preis dafür, überhaupt einen Publikumsfilm zu drehen, in dem der Massenmord an den Armeniern zum Gegenstand wird. Aber ist der Preis nicht etwas zu hoch? Oder war es umgekehrt, so nämlich, dass das Bedürfnis, einen Publikumsfilm zu drehen, von vornherein alles intellektuelle Potenzial zum Erlöschen brachte?“

Zunächst und zuerst zurück zum Film – dieser blickt konsequent durch die Augen seiner Hauptfigur. Man erlebt dadurch intensiv die Bedrohung, Verzweiflung und Hoffnung Nazarets und spontan ist man ganz bei ihm – Empathie eben. Doch The Cut ist nicht einfach ein eindimensionaler Blick auf diesen vernachlässigten Teil des Ersten Weltkriegs. Akin will vor allem vom Leid der Armenier erzählen, malt aber nicht in Schwarz-Weiß. Entscheidend und exemplarisch die eine Szene in der Mitte des Films: Sie zeigt, wie die besiegten Türken aus Aleppo abziehen. Die Einwohner bilden um sie herum eine lange Gasse, beschimpfen sie und werfen mit Steinen. Auch Nazaret steht dabei einen Stein in der Hand. Dann sieht er, wie ein kleiner türkischer Junge, geführt von der Hand seiner Mutter, getroffen wird: Seine Stirn blutet, die Mutter reißt entsetzt die Augen auf, er weint. Hier wird ein Unrecht an Wehrlosen mit einem weiteren vergolten – Auge um Auge, Zahn um Zahn wie in unserem christlich eingefärbten Kulturkreis gerne zitiert wird. Nazaret lässt den Stein fallen. Eine weitere Szene, die zeigt: Es ist nicht Akins Absicht, Leid und Elend als ausweglos zu beschreiben. Er erzählt, wie eine Filmvorführung Hoffnung auslöst inmitten scheinbar grenzenlosen Leids. 1921 gastiert in Aleppo ein Wanderkino. Die Armenier sind gerade wieder frei, doch leben sie als Flüchtlinge in Massenunterkünften, viele haben die ganze Familie verloren, überall wird mit Anzeigen nach Vermissten gesucht. Und dann diese Filmvorführung: Charlie Chaplins „The Kid“. Die Zuschauer lachen, aber nicht nur. Denn auch der Stummfilmheld hat Angst um sein Kind. Nazaret ist von dem Film tief berührt. Und trifft kurz danach auf einen Freund, der ihm erzählt, seine beiden Töchter seien noch am Leben. Er hat wieder ein Ziel.

Akin gelingt es überzeugend, die Situationen auf Leben und Tod eindringlich und – das ist das Besondere – ganz ohne ethnische Stereotypie zu schildern. Die religiöse Zugehörigkeit seiner Figuren unterläuft er als Regisseur mit Geschick. Der Film besteht darauf, dass Menschen sich nicht dadurch unterscheiden, dass sie zu Allah beten oder zu Jesus, sondern sucht den Unterschied in ihren Handlungen und kennzeichnet damit ihren Standpunkt. Der syrische Seifenfabrikant, der ihn und andere armenische Flüchtlinge bei sich aufnimmt, tut das ja als gläubiger Moslem. Im Kontrast dazu muss Nazaret später erleben, dass es Vergewaltigungen an ethnischen Minderheiten auch in der modernen „aufgeklärten“ US-Zivilgesellschaft gibt. Zeitlich und geografisch geht die Film-Geschichte weit über den Rahmen des armenischen Dramas von 1915 hinaus. Aber gerade so kommt etwas von jener besonders intensiven Emotionalität auf, die Akins Filme wie „Gegen die Wand“ und „Auf der anderen Seite“ prägte. Die Wehmut über die versprengten Schicksale in der Diaspora gehört zur Geschichte genauso wie die grausigen Details der Todesmärsche und -lager. Und so kann er sein Publikum durchaus berühren mit seinem Anliegen, ein marginalisiertes Verbrechen offensiv als solches zu benennen. Edle Gefühle, große Ideale, starke Charaktere, brutale Gegensätze – da stellt sich zwingend die Frage, worauf basieren sie und wodurch werden sie am Leben erhalten?

Als Western sehe er The Cut, sagt Akin in den Interviews. Er habe zuvor das Genre eingehend studiert. Dazu gehört deshalb auch buchstäblich die Beschwörung von den Weiten der Wüste und des Meeres. Akins Stärke, das präzise Kammerspiel, in dem seine Charaktere sehr lebendig werden, verbunden mit dieser Weite – das sind starke gefühlsbetonte Gegensätze, die aber miteinander verbunden werden müssen, sollen sie nicht im Leerlauf „krepieren“. Es ist, als wollte Akin dem „Schicksal“, das er farbig beschreibt, nicht erlauben, sich vor die große Tragödie zu stellen, deren Grauen er beklemmend darstellt ohne es maßlos auszubeuten. Wenn nach „Gegen die Wand“ und „Auf der anderen Seite“ nun The Cut als Schlusspunkt der Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“ gesehen wird und somit für den „Teufel“ steht, käme die Absicht, den Zuschauer emotional zu packen und für das Schicksal eines ganzen Volkes zu sensibilisieren, nicht über den bloß erneuerten „Mythos“ vom Bösen, von Leid und Untergang hinaus. Was den Zugang zur Geschichte ermöglichen, ja einfordern will, wird zum schwer überwindlichen Hindernis. Wer nicht wenigstens in groben Zügen die Fakten der Geschichte kennt, muss selbst das Bedürfnis entwickeln oder einfach Glück haben, den Zugang dazu zu finden.

Der Film liefert ihn so nicht, er ist dem unmittelbaren Erleben zu sehr verbunden – ein Kennzeichen des Hollywood-Filmprinzips schlechthin. Wollte der Regisseur nach eigenen Angaben auch nicht und verweist auf das Publikum in der Türkei, das er über das (auch religiös motivierte) Gefühl erreichen will – das Prinzip der emotionalen Betroffenheit. Was der Hinweis des Regisseurs aber nicht aufgefangen kann, nämlich die platte Wahrheit lautet: Unausgesprochenes und Nichtgezeigtes bleibt unverstanden und selbst die stärksten Bilder können dies nicht aktivieren. Ein leider wenig bekanntes Sprichwort sagt: Man sieht nur, was man weiß. Damit ist die Wirksamkeit des Films an die Grenzen des geographisch/ethnisch/kulturell bestimmten gesellschaftlichen Raums und die darin historisch unterschiedlich entwickelten Ansichten/Gewohnheiten/Geschichte(n) gebunden. Wenn nicht verdeutlicht wird, dass der Versuch des türkischen Volkes in allen seinen Gliederungen, eine einheitliche Nation zu werden, bereits in einem von den imperialistischen Großmächten bestimmten ökonomischen, politischen und kulturellen Umfeld und Geschichtsabschnitt stattfindet, kann die Wahrnehmung – insbesondere hier im „erneuerten“ Deutschland – jederzeit wieder auf religiöse und kulturelle Differenzen verengt werden. So haben wir neben der Verfolgung/Vernichtung der Juden, Sinti/Roma, Kurden, Indianer, Aborigines u.a. lediglich eine Volksgruppe/Nation mehr, die der verallgemeinernden Geschichte der Barbarei ohne politischen und historischen Bezugspunkt anheim fällt. Eine Demonstration gegen die „Christenverfolgung“ fand vor nicht allzu langer Zeit ja auch schon in Augsburg statt und wird wohl weiterhin von interessierter Seite angesichts der Vorgänge im Irak und in Syrien bemüht werden.

Hans-Jörg Schraml, 28.10.2014


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