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Afghanistan, das neue Vietnam des US-Imperialismus?Die Geburtsstunde und die Geburtshelfer der TalibanAktuell die einzige bewaffnete Bewegung, die den USA die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten aufzeigt / „Furcht vor der Rückkehr der Taliban mögen die Eliten in Kabul haben. Die Menschen auf dem Land und in den kleinen Städten … haben andere Sorgen“Von Matin Baraki 13.8.2020
Dr. Matin Baraki, prominenter Autor, Politikwissenschaftler und Afghanistanspezialist an der Philipps-Universität Marburg, hat uns einen Hintergrundartikel zu den Taliban geschrieben. Wir denken, dass dieser Artikel es uns nicht nur erleichtert, die Geschichte der Taliban zu verstehen, sondern auch eine wichtige Grundlage ist zur Beurteilung der aktuellen Politik in und um Afghanistan. Auch an dem anschließenden Kommentar hat Matin Baraki durch ein Telefonat mit unserer Redaktion mitgewirkt. Im Kommentar sollen einige aktuelle Fragen und Probleme, die im Zusammenhang mit den Taliban immer wieder auftauchen, verhandelt werden. Thematisiert wird auch die Berichterstattung der Augsburger Allgemeinen in diesem Zusammenhang, die mit Reinhard Erös auch einen Spezialisten hat, auf den sie sich gerne stützt. Die Geburtsstunde und die Geburtshelfer der TalibanIm April 1978 hatte die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) das feudale Daud-Regime gestürzt und grundlegende Reformen eingeleitet. In den strategischen Zentren des Westens stellte man fest, dass dieses Afghanistan keine Schule machen dürfe. Ansonsten würde die gesamte Region revolutioniert und die Ölversorgung des Westens gefährdet. Die iranische Revolution von 1979 bestätigte diese Befürchtung. Daraufhin wurde die Beseitigung der neuen Regierung in Kabul beschlossen. Sie wurde als kommunistisch eingestuft und zu ihrer Bekämpfung der Islamismus erfunden. Das war die Geburtsstunde der Mujaheddin, Taliban und Al-Qaida, also jener Islamisten, die wir nun weltweit beobachten. Die Taliban waren Waisenkinder der afghanischen Flüchtlinge und Kinder armer pakistanischer Familien, die keine Schulausbildung finanzieren konnten. Sie wurden in den um Peshawar errichteten Koranschulen kostenlos unterrichtet, ideologisch geschult und später militärisch ausgebildet und ausgerüstet. Für ihre Organisierung und militärische Ausbildung sorgten die CIA und Pakistans Geheimdienst Interservices Intelligence (ISI). Dies bestätigte Generalleutnant Hamid Gul, der Chef des ISI. Für die Finanzierung sorgten die arabischen Golfmonarchien. Sie waren die Geburtshelfer von Taliban und Al-Qaida. Der pakistanische Machthaber und Ultra-Islamist, General Zia Ul Haq, hatte ab 1980 neue Koranschulen errichten lassen, deren Zahl von Experten heute mit 50.000 angegeben wird. Selbst wenn sich von jeder Schule nur ein Taliban den Kämpfern anschließen würde, hätten die Taliban jährlich 50.000 Kämpfer. Dazu kommen afghanische, uighurische, turkmenische und arabische Taliban bzw. freiwillige Jihadisten. Man kann heute mit Fug und Recht von einer Internationale des Islamismus sprechen. Afghanische Kinder testen die neuen Schreibtische, die ihrer Schule gespendet wurden. Ein Soldat der International Security Assistance Force ISAF baute mehrere Schreibtische und Bänke für eine afghanische Jungen- und Mädchenschule in Kabul, Afghanistan. 23.5.2011, Kabul Foto: by Staff Sgt. Stacey Haga International Security Assistance Force HQ Public Affairs, Public Domain Quelle Erst nach dem 11. September 2001 erklärten die USA ihre ehemaligen Zöglinge und Verbündeten, die Taliban, zu Terroristen. Seit mehr als neunzehn Jahren führen sie nun einen gnadenlosen Krieg gegen sie. Viele ihrer alten, durch die Jahre müde gewordenen Kommandanten, die zuletzt Kompromissbereitschaft signalisierten, wurden eliminiert, aber die Bewegung konnte nicht zerstört werden. Da sie von Teilen der Bevölkerung geschützt oder zumindest geduldet werden. Die jungen Taliban-Kommandanten sind kampflustiger und kompromissloser. Wegen der Drohneneinsätze der CIA, bei denen es zu vielen zivilen Opfern kommt, schließen sich deren Angehörige als Freiwillige den Taliban an, gewähren ihnen Unterschlupf und geben ihnen Spenden. So können sich die Taliban in den Stammesgebieten wie Fische im Wasser bewegen. Sie werden von den erstarkten islamistischen Parteien Pakistans und aus arabischen Quellen weiterhin finanziert. Waffen kaufen sie auf dem Schwarzmarkt oder erbeuten sie durch Überfälle auf die Konvois, die von der pakistanischen Hafenstadt Karatschi aus über den Khaybar-Pass die US-Besatzer in Afghanistan beliefern. Da sie von den islamistischen Parteien Pakistans als Freiheitskämpfer gegen die USA angesehen werden, erhalten sie von ihnen politische, personelle und finanzielle Unterstützung. Die US-Drohneneinsätze, die unter US-Präsident Barack Obama im Vergleich zur George W. Bush-Administration um das Zehnfache erhöht wurden, führten zu einer Verjüngung und damit zur Stärkung der Kampfmotivationen der Taliban. Um Guantanamo schließen zu können, befahl Präsident Obama, keine Gefangenen mehr zu machen. Dadurch wurden die Taliban gnadenlos eliminiert. Völkerrechtlich gesehen, ist das ein Akt des Staatsterrorismus.
NATO-Strategen haben vor etwa zehn Jahren eine Differenzierung der Talibanbewegung vorgenommen. Es wurde zwischen einheimischen und internationalen Taliban unterschieden. Einheimische hätten, anders als Al Qaida, keine internationale Agenda. Sie wollen nur fremde Soldaten aus ihrem Land vertreiben, deswegen könne man mit ihnen verhandeln. Damit haben die NATO-Besatzer die Taliban-Bewegung faktisch als legitime Widerstandsbewegung anerkannt. Ziel der westlichen Strategen war es, die Taliban in Afghanistan in die kolonial ähnlichen Strukturen zu integrieren und damit zu neutralisieren. Diese Strategie wurde jetzt durch das Abkommen zwischen USA und Taliban im März 2020 umgesetzt. Ob das Abkommen im Sinne der US-Strategen zum Ziel führt, muss noch abgewartet werden. Als die pakistanische Regierung eine Differenzierung der pakistanischen Talibanbewegung auch für sich beanspruchte und mit den einheimischen Taliban einen Waffenstillstand vereinbarte, wurde die Regierung in Islamabad von den USA ultimativ dazu aufgefordert, die Taliban weiter zu bekämpfen. Pakistans Armee führte mehrere Operationen durch, zuletzt im Frühjahr 2013, wobei auch Zivilisten getötet wurden. Die Taliban haben sich grausam gerächt. Ihre Selbstmordattentäter griffen am 16. Dezember 2014 eine von Kindern des Militärs besuchte Schule in Peshawar an, wobei über 140 Schüler bzw. Lehrer und die Angreifer ums Leben kamen. „Sie müssen fühlen, wie es ist, wenn man Kinder ermordet“, sagte ein Taliban-Sprecher an die Adresse des pakistanischen Militärs gerichtet. Für eine Lösung des Konfliktes in und um Afghanistan und Pakistan gibt es zu Verhandlungen mit den Taliban keine Alternative. Die westlichen Länder, allen voran die USA, sollten sich aus dem innerafghanischen und pakistanischen Konflikt heraushalten. Es ist bewiesen worden, dass externe Faktoren die Probleme nicht lösen, sondern eher verschlimmern. Die USA sind längst nicht mehr nur Teil des Problems, sondern das Hauptproblem für die Konfliktlösung in der Region. Sie sind zu einem Hemmnis für eine friedliche Beilegung der innenpolitischen Konflikte in Afghanistan und Pakistan geworden. Je mehr sie die Taliban unter Druck setzen, politisch oder militärisch, desto stärker agieren die Taliban. Es gibt inzwischen viele verschiedene Widerstandsgruppen, die gegen die US-Besatzer am Hindukusch kämpfen. Aber die Taliban – ob sie und ihre Ideologie uns gefallen oder nicht – sind die einzige schlagkräftige, bewaffnete Bewegung, die den US-Imperialisten die Grenze ihrer militärischen Fähigkeiten überdeutlich machten. Es wäre nicht übertrieben, festzustellen: Sie haben der US-Supermacht die größte Niederlage nach Vietnam beigebracht. Die Taliban sind ein nationale patriotische Widerstandsgruppe, deren Kämpfer die Verteidigung ihrer Heimat mit dem Leben bezahlen. Strategisch betrachtet, sind sie in dieser aktuellen Phase des antiimperialistischen Kampfes Bündnispartner aller Bewegungen, die gegen jegliche ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Länder und gegen militärische Interventionen sind. Daher müssen wir der einseitigen Verteufelung der Taliban durch die Schreibsöldner der Westmächte entgegentreten. Die antiimperialistischen Kräfte müssen die Bewegung der Taliban differenziert und aus strategischer Perspektive betrachten, analysieren, einordnen, bewerten und würdigen. Matin Baraki, 17. Juni 2020 KommentarAuch die Augsburger Allgemeine befasst sich in regelmäßigen Abständen mit der Lage in Afghanistan und den Taliban. Dabei ist der Journalist Simon Kaminski in der Regel mit Reinhard Erös im Gespräch. Matin Baraki sagte uns, Erös sei ein Bundeswehrarzt, der jetzt Bildungsprojekte im Osten Afghanistans betreibt und dafür Spenden sammelt. In den achtziger Jahren hätten sich viele Offiziere formal beurlauben lassen, damit man der Bundeswehr nicht unterstellt, sie schicke Militär nach Afghanistan. Diese „beurlaubten“ Offiziere seien nach Afghanistan gegangen um die Mudschahedin zu unterstützen. Von daher habe Erös gute Kontakte zu ehemaligen Mudschahedin-Kommandanten. Zum Teil s agt Erös in diesen Artikeln der Augsburger Allgemeinen Erstaunliches. Aber Matin Baraki bestätigte die Informationen von Erös weitgehend. So s chrieb die Augsburger Allgemeine bereits im Februar 2019, dass sich in den USA, aber auch bei den westlichen Verbündeten die Überzeugung durchsetzte, dass der endlos-Konflikt ohne Übereinkünfte mit den Taliban nicht zu lösen sein werde. Bereits im Sommer 2018 habe Washington Direktgespräche mit den Taliban gestartet, die von der Regierung in Kabul mit Argwohn beobachtet wurden. Die Taliban kontrollierten bereits wieder rund 50 Prozent des Landes. Erös in der Augsburger Allgemeinen ( 1 ):
Im September 2019 berichtete die Augsburger Allgemeine über Geheimverhandlungen der USA mit den Taliban. Darin ginge es darum, dass die Taliban verhindern sollten, dass IS und andere internationale Terrororganisationen in Afghanistan Fuß fassen, und die USA dafür ihre Besatzungstruppen abziehen ( 2 ):
Eine afghanische Mitarbeiterin näht am Decken in einer Textilfabrik. Die Führung der NATO Training Mission-Afghanistan NTM-A besuchte zwei afghanische Textilunternehmen in Frauenbesitz, die Ausrüstung für die Afghanische Nationale Sicherheitstruppe herstellen. NTM-A-Mitglieder hatten die Gelegenheit, direkt zu sehen, welche Produktionskapazitäten in Kabul vorhanden sind und wie NTM-A die Frauen in Afghanistan beschäftigt, indem sie sie in die Arbeitswelt einbeziehen. 17.12.2012 Foto: Senior Airman Andrea Salazar (U.S. Armed Forces) Public Domain Quelle United States Air Force In gewisser Weise spielt Erös aber die militärische Position der USA in Afghanistan herunter und auch die strategischen Interessen der USA. Erös behauptet, die USA würden über fünf Flugbasen verfügen. Tatsächlich verfügen die USA über 16 Militärbasen in Afghanistan, darunter acht große:
Matin Baraki dazu: Ein Angriff der USA auf den Iran würde über den Persischen Golf laufen, dazu brauchen die USA Afghanistan nicht. Die Gründe, warum die USA Afghanistan nicht aufgeben wollen, lägen in China und nicht im Iran oder in Pakistan. Perspektivisch sei Afghanistan sehr wichtig für die USA für einen Feldzug gegen China. Afghanische Polizistinnen fahren an ihrem ersten Tag am Steuer während eines Grundkurses im regionalen Schulungszentrum in Afghanistan durch ein leeres Feld. Die Frauen sind Schülerinnen einer Fahrklasse, die Polizistinnen angeboten werden, die zuvor noch nie die Möglichkeit hatten, ein Fahrzeug zu fahren. Während des Kurses lernen sie die Grundlagen des Betriebs eines Kraftfahrzeugs, die grundlegende Wartung eines Fahrzeugs und Techniken zum Fahren bei unterschiedlichen Gelände- und Wetterbedingungen. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Andrea Navar) 26.11.2011 Foto: NATO Training Mission-Afghanistan CC BY-SA 2.0 Quelle Auch in ihrer Ausgabe vom April dieses Jahres berichtete die Augsburger Allgemeine, gestützt auf Reinhard Erös, einige markante Dinge ( 4 ):
Afghanische Frauen in in Bagh-e-Babur, Kabul. 16.8.2013 Foto: ninara from Helsinki, Finland CC BY 2.0 Quelle Die Hauptfragen, die hierzulande zu den Taliban gestellt werden, betreffen die Frauen, die Mädchen und die Schulen. Im Gespräch erläuterte uns Matin Baraki: Die Taliban waren ursprünglich, als sie 1996 die Macht übernommen hatten, dagegen, dass die Frauen zur Arbeit und die Mädchen zur Schule gehen. Aber in Kabul und anderen großen Städten haben viele Frauen gearbeitet, vor allem in der Lebensmittelindustrie und den Bäckereien. Dadurch wurde die Ernährung der Bevölkerung gewährleistet. Die Taliban bestanden darauf, dass die Frauen dort aufhören zu arbeiten. Daraufhin erklärten die Vereinten Nationen: Wenn ihr das tut, dann werden wir jede Hilfe einstellen, dann müsst ihr selber schauen, wie ihr die Leute ernährt. Auf das Ultimatum der Vereinten Nationen hin lenkten die Taliban ein und ließen die Frauen arbeiten – aber ohne Männer. Diese Strategie haben die Taliban bis heute beibehalten und sogar noch weiter revidiert. Demnach dürfen die Frauen arbeiten gehen und die Mädchen zur Schule gehen, aber getrennt von den Männern, und die islamischen Vorschriften müssen berücksichtigt werden. Das ist der Kompromiss, zudem die Taliban bereit waren. Wie die Fotos in diesem Artikel zeigen, gibt es Beispiele, wo nicht einmal diese Trennung von Jungen und Mädchen in der Schule oder von Frauen und Männern an den Arbeitsstellen und Büros durchgehalten wird. Die die Taliban haben gesehen, dass sie heute, wo sie nicht an der Macht sind, ihre Vorschriften für Frauen und Mädchen nicht durchsetzen können, und zeigten sich kompromissbereit. Zur Frage, ob die Taliban dies wieder revidieren würden, wenn sie an die Macht kommen, meinte Matin Baraki, die Taliban würden in Zukunft höchstens an der Regierung beteiligt. Es seien noch andere Kräfte an der Regierung beteiligt und die Taliban müssten Kompromisse machen und würden nicht in die Lage kommen, ihre maximalen Forderungen durchzusetzen.
Auch die Verhandlungen mit den USA in Doha hätten gezeigt, dass die Taliban sehr weitgehend zu Kompromissen bereit sind. Die Verhandlungen mit den USA sind abgeschlossen. Das Ergebnis ist, dass die USA in absehbarer Zeit ihr Militär aus Afghanistan abziehen, zu mindestens zum Teil, und dass die gefangenen Taleban freigelassen werden sollen. Danach, wenn diese vertrauensbildenden Maßnahmen abgeschlossen sind, soll es zu direkten Verhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban kommen. Die Taliban bestehen aber zunächst auf der Freilassung der Gefangenen. Darunter sind auch ihre Kommandanten, die sie namentlich benannt haben. Auf die Frage, ob auch die Administration in Kabul bereit sei, mit den Taliban zu verhandeln, sagte Matin Baraki, die Kabuler Administration sei froh, wenn die Taliban mit Ihnen verhandeln würden. Bisher hätten die Taliban das abgelehnt, weil sie sagten, die Kabuler Administration seien Marionetten der USA, mit ihnen würden sie nicht verhandeln, sie w ürden nur direkt mit den USA Gespräche führen. Diesen Standpunkt haben die Taliban insofern geändert, als sie bereit wären, mit der Administration in Kabul zu verhandeln, wenn diese ihre Bedingungen anerkennt. Für diese Strategie hätten die Taliban auch den Segen der USA, denn Trump habe zu erkennen gegeben, dass er die Truppen aus Afghanistan abziehen will. Sollte Trump die Wahlen gewinnen, kann es sein, dass er diese Linie revidiert oder zumindest nur einen teilweisen Abzug der US-Truppen durchführt. Selbst wenn Trump einen vollständigen Abzug wollte, würden die Militärstrategen der USA dies nicht zulassen, weil die Volksrepublik China der Feind Nummer 1 der USA sei. Es sei nicht ausgeschlossen, wenn den USA das Wasser bis zum Hals steht, dass sie einen Krieg gegen die VR China beginnen werden – und dafür brauchen sie Afghanistan. Denn Afghanistan hat im Nordosten eine gemeinsame Grenze mit China. Und dort hätten die USA in 5000 m Höhe eine Militärbasis aufgebaut. Dieser Stützpunkt im ewigen Eis habe mit den Taliban oder Alkaida nichts zu tun. E r diene dazu, die Volksrepublik China zu überwachen und auszuspionieren. Zu den Behauptungen afghanischer Asylbewerber und ihrer notorischen Hetze gegen die Taliban, zum Beispiel auch regelmäßig auf den Kundgebungen des Augsburger Flüchtlingsrats, stellte Matin Baraki fest: Die Afghanen, die seit 2015 geflüchtet sind, seien zum größten Teil gekommen, weil Frau Merkel die Grenze geöffnet hat. Sonst wären wahrscheinlich nur 0,01 Prozent geflüchtet. Diese Asylbewerber müssten aber jetzt ein Argument vortragen, warum sie geflüchtet sind. Da die Taleban allgemein national und international verhasst sind , vor allem in den westlichen NATO-Staaten, und da die Anti-Taleban-Propaganda benutzt wird , um die Präsenz der NATO zu rechtfertigen – sei das ein gefundenes Fressen für die afghanischen Asylbewerber, die Taleban zu verteufeln. Und so behaupten sie, sie würden von den Taliban verfolgt, obwohl sie möglicherweise mit den Taliban niemals etwas zu tun hatten. Es werde ihnen schon von den Schleppern in Afghanistan gesagt, was man in Europa von Ihnen hören will. Sollten die Asylbewerber aus Afghanistan das nicht hören lassen , würden sie abgelehnt und möglicherweise auch abgeschoben. Gerne wird auch behauptet, die Taliban massakrierten die Zivilbevölkerung. Dazu sagte uns Matin Baraki, es gebe eine Fatwa, also ein Rechtsgutachten des obersten geistlichen Führers der Taliban, dass sie auf keinen Fall Zivilisten angreifen dürfen. Wir wüssten natürlich, dass Zivilisten ums Leben kommen. Das habe damit zu tun, wenn die Taliban zentrale Einrichtung der Verwaltung, der Polizei des Militärs oder des Geheimdienstes angreifen, sei das oft in Gegenden, wo Zivilisten sich aufhalten oder vorbeikommen. Also gebe es auch zivile Opfer, aber mehr aus dem Grund, dass sie – so tragisch das ist – zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Die aktuelle Entwicklung sehe jetzt so aus, dass die Taliban wegen Corona ihre Einsätze minimiert beziehungsweise eingestellt haben. Wenn Sie ab und zu angriffen, dann nur Sicherheitskräfte und Organe des Staates. US-Personal werde seit dem Abkommen von Doha nicht mehr angegriffen. Akutelle Ergänzung: Eine Loja Dschirga, eine große Ratsversammlung afghanischer Gesellschaftsvertreter, stimmte nach dreitägigen Beratungen am Sonntag, 9. August, der Freilassung der letzten vierhundert Kämpfer der Taliban zu. In Anwesenheit des Staatspräsidenten Aschraf Ghani s prach Versammlungsleiter Abdullah Abdullah vor 3200 Delegierten von einer „Entscheidung über Leben und Tod“ und zeigte sich am Sonntag erleichtert: „Wir stehen an der Schwelle der Friedensverhandlungen.“ ( 5 ) Laut dpa-Recherchen seien noch mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes umkämpft. Allerdings stünden nur noch knapp 40 Prozent unter Regierungskontrolle, vor drei Jahren seien es noch 60 Prozent gewesen. Die Provinzhauptstädte seien in Regierungshand, doch die Taliban hätten „Schattenherrschaften“ etabliert und operierten dort aus dem Untergrund. Interessant ist, dass dort, wo auch die Bundeswehr stationiert ist, die Taliban sehr stark sind. In der Provinz Kundus stehe kein Bezirk unter voller Kontrolle der Regierung, 2015 hatten die Taliban sogar kurzzeitig die Stadt Kundus erobert. Die Augsburger Allgemeine schreibt ( 6 ):
Laut Martin Baraki müsse man solche Aussagen stark relativieren. Eine „Zivilgesellschaft“ im üblichen Sinne gibt es in Afghanistan nicht. Die sogenannte Zivilgesellschaft sei mehr eine fünfte Kolonne des Westens. Und auch bei den Streitkräften müsse man unterscheiden. Natürlich hätten sie im Krieg große Opfer gebracht, und sie sehnten sich wie die ganze Bevölkerung nach dem Frieden, weil sie am meisten darunter leiden und die meisten Opfer bringen. Aber im vergangenen Jahr habe es eine außerordentliche Verbrüderung zwischen den einfachen Soldaten und den Taliban im ganzen Land gegeben. Sie hätten sich umarmt und geküsst … Es gebe aber eine Sache – so Matin Baraki –, es gebe Leute, die von dem Krieg profitieren und zwar ganz ordentlich. Sei es die Generalität oder die sogenannte Zivilgesellschaft und die Administration – für sie s ei der Krieg ein tolles Geschäft. Die Zahl von 70.000 Kämpfern sei wahrscheinlich untertrieben. Die personellen Reserven, die die Taliban haben, sei es in Afghanistan oder in Pakistan, seien nahezu unerschöpflich. Matin Baraki, Peter Feininger, 13. August 2020
1 Kaminski, Simon: „Werden die Taliban salonfähig? Analyse Die Dschihadisten-Miliz galt viele Jahre als steinzeitliche Terror-Gruppe. Nun verhandeln die USA mit den Kämpfern. Afghanistan-Experte Reinhard Erös hält das für richtig“, 16.2.2019 Augsburger Allgemeine 2 Kaminski, Simon: „Kaum Hoffnung auf Ende des Krieges in Afghanistan. Analyse. US-Präsident Trump stoppt Gespräche mit Taliban. Nun droht noch mehr Gewalt“, 11.9.2019 Augsburger Allgemeine 3 Ebd. 4 Kaminski, Simon: „Das geplagte Land. Hintergrund. Reinhard Erös kennt Afghanistan wie kaum ein anderer. Er spricht über die drohenden Pandemie-Folgen, seine Hilfsprojekte und die mögliche Rückkehr der Taliban“, 18.4.2020 Augsburger Allgemeine 5 Nach: Bänsch, Arne, Hesam Hesamuddin, Qiam Noori, und dpa. „Wie die Taliban zwei Weltmächten trotzten. Hintergrund In Afghanistan könnten Friedensgespräche der Regierung den erbitterten Konflikt im Land beenden. Dabei geht es um die Neuverteilung von Macht. Doch wie stark sind die aufständischen Islamisten wirklich?“ Augsburger Allgemeine, 10. August 2020. 6 Ebd.
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