Ukraine-Berichterstattung – Medienkritik, Teil 1

Wahrheit, die ich meine …

Es vergeht kein Tag, an dem nicht die immer wieder kritisierte Berichterstattung über den Bürgerkrieg in der Ukraine unvermindert fortgeführt wird. Aus diesem Grund werden wir einige Artikel aus großen Tageszeitungen daraufhin untersuchen, was von der gern zitierten „Freiheit der Berichterstattung“ konkret übrig bleibt. Anhand der Textanalyse eines in der FAZ veröffentlichten Artikels kann nachverfolgt werden, wie aus der Pressefreiheit eine „Freiheit“ der Presse wird, sich die Wirklichkeit ziemlich frei von realen Bezügen zurechtzuschreiben und dabei die einfachsten Gesetze logischen Denkens der Verachtung preiszugeben.

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FAZ (boy. Kiew, 10. August), 11. August

„Barrikaden auf dem Majdan unter Protest geräumt“

Untertitel: „Schwere Ausschreitungen in Kiew / Tote bei Gefechten in der Ostukraine/ Separatisten lehnen Feuerpause ab“

Die folgende und alle weiteren Textanalysen gehen - in Anlehnung an Kants Definition der Aufklärung - von der journalistischen Verpflichtung aus, die LeserInnen so zu informieren, dass Sie sich selbstständig eine Meinung bilden können. Das beinhaltet den immerwährenden Respekt vor dem mündigen Leser und den Verzicht auf Propaganda und Manipulation: Meine Zeitung hilft mir, mich meines eigenen Verstandes zu bedienen, und erschwert es mir nicht. Ich untersuche also, inwieweit die einzelnen Texte dieser Maxime entsprechen. Ich untersuche aus guten Gründen nicht, ob die Behauptungen und Unterstellungen in diesen Texten wahr sind, aber ich mache auf Widersprüche in den Texten, schlampige Zitierweise, unredlichen Umgang mit Quellen, den manipulativen Einsatz von Wörtern, versteckte Tatsachenbehauptungen und stillschweigend Vorausgesetztes und Mitgemeintes aufmerksam.

Da die Informationen in den Überschriften in ihrer kurzen prägnanten Form und aufgrund der Schriftgröße normalerweise wohl mehr in unserem Gedächtnis haften bleiben, ist ihre Analyse besonders wichtig. Und hier fällt ein eklatanter Widerspruch zu den Informationen aus dem weiteren Text auf. Dort steht: „Das Militär lehnte eine Feuerpause, die die Separatisten am Samstag angeboten hatten, zunächst ab. Ein Armeesprecher sagte, eine Waffenruhe könne es nur geben, wenn die Separatisten ihre Waffen niederlegten.“ Und ergänzend weiter unten: „Eine einseitige Feuerpause lehnte Separatistenführer Alexander Sacharschenko abermals ab.“ Welcher Information sollen die LeserInnen der FAZ nun vertrauen? Die Information im Untertitel geht von einer Ablehnung einer Feuerpause durch die Separatisten aus, aber im Text heißt es eindeutig, dass das ukrainische Militär eine von den Aufständischen vorgeschlagene Waffenruhe von einer Kapitulation der Separatisten abhängig mache. Und von einer Ablehnung einer einseitigen Waffenruhe ist ja im Untertitel nicht die Rede. Da die Überschriften üblicherweise nicht in der Verantwortung der Textautoren liegen, gibt es drei Erklärungen für die gegenteilige Information im Untertitel: Der Text von Ann-Dorit Boy wurde falsch verstanden, das „einseitige“ vor „Feuerpause“ wurde einfach so gekürzt, weil die Zeilenvorgabe dies erforderte oder er wurde mit (Zensur-) Absicht verfälscht. Vielleicht war es auch eine Mischung von allem – aber es wirft auf jeden Fall ein schlechtes Licht auf die journalistische Sorgfalt der FAZ-Redaktion.

Ein entscheidender Problembereich sind die Bezeichnungen für Personengruppen. In unserem Fall geht es einmal um die auf dem Majdan tätigen Gruppen und zum anderen um die Beteiligten an den Gefechten in der Ostukraine.

Die Überreste des Majdan - Foto: Artem Sheremet CC BY-NC-SA 2.0
Quelle: https://www.flickr.com/photos/arrtem/12704755964/in/photostream/

Auf dem Majdan sind und waren nach FAZ-Angaben folgende Gruppen an den Ereignissen beteiligt: „Dutzende Aktivisten“, „Aktivisten“, „Vertreter der Protestierenden“, „Dutzende Demonstranten“, „mehr als 100 Protestierende“, „Bewohner des Zeltlagers“, „Hunderte von Aktivisten“, „Teilweise maskierte Demonstranten“, „große Teile der Protestierenden“, „Mehrere hundert Männer und Frauen, die unterschiedlichen Organisationen angehörten“, „verbliebene Bewohner“ , „ein harter Kern der Bewohner des Majdan“, „Majdan-Aktivisten“, „Aktivisten, gegen die Strafermittlungen laufen“, „Arbeitslose und Wohnungslose“. Nach so vielen Monaten ist es der FAZ-Reporterin offensichtlich immer noch nicht möglich, uns zu informieren, welchen politischen Lagern die Personengruppen angehören – oder Sie will bzw. darf es nicht. Die weitest gehende Information ist, dass sie unterschiedlichen Organisationen angehören.

Aber dann – so ganz nebenbei – erfahren wir doch noch, wer da auf dem Majdan das Regiment führt und wer an den „schweren Ausschreitungen“ beteiligt war, als am vorhergehenden Donnerstag „300 städtische Mitarbeiter“ die Barrikaden auf dem Majdan räumen wollten. Und wir erfahren, wer die Bewohner des Majdan offensichtlich sind, die „Reifen“ angezündet und „Brandsätze“ geworfen, die „Flaschen und Steine auf die Sicherheitskräfte“ geschleudert hätten. Im sechsten von sieben Abschnitten wird mitgeteilt, dass Igor Masur, der Führer des Rechten Sektors in der Region Kiew, Bedingungen stellte, „unter denen seine Männer zum Abzug bereit seien.“

So kommt die wichtigste Information so ganz nebenbei, nachdem fünf Abschnitte lang nur von Aktivisten und Demonstranten die Rede war. Immerhin lesen wir im ganzen Artikel kein einziges Mal die Bezeichnungen „Freiheitskämpfer“, „demokratische Bürgerbewegung“ oder Ähnliches, was sonst die Phantasie von deutschen Journalisten und Politikern beeinflusst. Und die Sympathie der Textautorin gehört ganz offensichtlich nicht mehr den restlichen Gruppen auf dem Majdan: „Das heruntergekommene Protestlager wurde von vielen Einwohnern Kiews zuletzt jedoch als ‚Alkomajdan‘ bezeichnet in Anspielung auf den Alkoholkonsum der verbliebenen Bewohner.“ Sollte sich tatsächlich eine „Putinversteherin“ in die FAZ eingeschlichen haben? Oder geht hier nur eine Berichterstatterin am Ende doch noch ihren journalistischen Sorgfaltsplichten – wenn auch in reduzierter Weise – nach?

Dass es mit der Sorgfaltspflicht aber nicht so weit her ist, zeigt der siebte Abschnitt. Wir lesen dort, dass sich „Regierungstruppen“ und „prorussische Separatisten“ oder auch „prorussische Aufständische“ Gefechte liefern. Immerhin wird klar, die „Aufständischen erwiderten das Feuer.“ Der Angreifer wir also scheinbar deutlich benannt. Nur erfahren wir so nicht, wer mit den ukrainischen Regierungstruppen kämpft bzw. woraus sie bestehen. Wenn wir allerdings zum fünften Abschnitt zurückgehen, lesen wir, dass die Stadt Kiew „einigen der Besetzer Arbeitsplätze und Unterkünfte“ angeboten habe. Und daran anschließend: „Viele schlossen sich der Nationalgarde an, die an der Seite der ukrainischen Truppen im Osten der Ukraine gegen bewaffnete Separatisten kämpft.“ Und zur Ehrenrettung von Ann-Dorit Boy: In einem Beitrag für die FAS vom 10. August („Gurken und Kekse für unsere Soldaten“) weist sie darauf hin, dass „Kämpfer vom Freiwilligenbataillon Asow, dem viele Rechtsradikale angehören“, mit den ukrainischen Truppen zusammen in der Ostukraine kämpfen.

Einiges an Hintergrundwissen kann eigentlich aus dem Kontext erschlossen werden und ist auch unerlässlich, um den Text kohärent und ausreichend informativ zu machen. So ein Wissen kann entweder als selbstverständlich vorausgesetzt oder soll/darf nicht offen ausgesprochen werden. Dies kann im Falle von „soll / darf“ auch auf Redaktionsvorgaben zurückzuführen sein oder der eigenen journalistischen Schere im Kopf entstammen. So können wir lesen, dass am Sonntag die vom Majdan abgehende Institutsa-Straße abgesperrt wurde, in der „am 20. Februar Dutzende Demonstranten unter noch immer ungeklärten Umständen von Scharfschützen erschossen worden“ seien. Und dazu wird noch auf eine Mitteilung des Innenministeriums verwiesen, „dass Ermittler die noch immer auf der Straße stehenden Barrikaden aus Pflastersteinen und Metallteilen untersuchten, die zur Aufklärung der Geschehnisse im Februar beitragen könnten.“ Wir erfahren also zwei wichtige Fakten: Das Innenministerium versucht immer noch die Morde vom Februar aufzuklären und hat bisher anscheinend die Barrikaden nicht ausreichend untersucht. Außerdem ist nach Ansicht von Frau Boy unbestritten, dass die Vorfälle bisher ungeklärt sind. Die Fragen, die jetzt eigentlich aufgeworfen werden müssten, aber im Text leider nicht aufgeworfen werden, liegen auf der Hand: Warum war das Innenministerium bei den für den Sturz der Janukowitsch-Regierung so entscheidenden Ereignissen bis heute – fast 6 Monate später - nicht in der Lage oder nicht Willens, die Verantwortung für Dutzende gezielte Morde zu klären? Warum transportiert die derzeitige Regierung in Kiew aber trotzdem immer noch die Behauptung von der Verantwortung der Vorgängerregierung für diese Morde als Tatsache? Und warum übernehmen westliche Regierungen und Medien diese Behauptungen ungeprüft? Warum fordern sie nicht hartnäckig, dass die Regierung in Kiew endlich die Verantwortlichen für die Morde von einer internationalen Kommission feststellen lässt? Dürfen diese Fragen in der FAZ nicht gestellt werden oder hält Frau Boy sie einfach für unwichtig? Doch es ist in der deutschen Medienlandschaft schon herausragend, wenn in Berichten über die Ukraine überhaupt festgestellt wird, dass die Morde auf dem Majdan immer noch ungeklärt sind.

Also, man erfährt schon einiges aus der FAZ /FAS, um sich eine eigene Meinung zu bilden, aber man muss sehr aufmerksam lesen und muss sich die Informationen zusammensuchen. Die FAZ könnte es ihren LeserInnen einfacher machen, aber vielleicht sollen wir ja auf ein Zwischen-den-Zeilen-lesen vorbereitet werden, wie es uns sonst als unerlässliche Fertigkeit aus Ländern mit fehlender Pressefreiheit bekannt geworden ist.

Wird fortgesetzt.

Hansjörg Bisle-Müller, 16.08.2014

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