Anmerkungen zum Ergebnis der EU-Wahl, Teil 5

Gründe für das schlechte Wahlergebnis der deutschen Linken gesucht

Fokussierung der Linken auf eine radikale ökologische Wende? Die Parteivorsitzende Katja Kipping orientiert auf eine Linksregierung, die „die Mitte deutlich besser stellt“. Riexinger klammert sich an alles, was gerade in ist, und wirft dabei den Antimilitarismus über Bord

1.9.2019

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Es gibt eine Reihe von Gründen, warum das Ergebnis der Linkspartei bei den EU-Wahlen so schlecht war, dass man sich Sorgen um ihre Fortexistenz machen muss: Interne Auseinandersetzungen über die Migrationspolitik, Differenzen in der Bewertung der EU, linke Konkurrenzkandidaturen … Am Wahlprogramm der Linken lag es wohl nicht, eher daran, dass man der Partei nicht mehr zutraut, irgendetwas davon umzusetzen. Das Marxistische Forum Sachsen konstatiert einen tief sitzenden Opportunismus. In Der Linken habe sich erneut wie schon in der PDS eine Schicht von Funktionären, Mandatsträgern und Angestellten herausgebildet, die von der Partei leben. Das sei der Hintergrund dafür, dass die Partei zu den Regierenden Brücken schlagen will … Die Tendenz der Linken, jetzt auf eine radikal-ökologische Wende zu orientieren, dürfte nicht viel bringen. Es besteht dabei die Gefahr, dass andere, wichtige linke Positionen der Partei verloren gehen. Die beiden Parteivorsitzenden traten unmittelbar nach der Wahl mit kuriosen Vorschlägen auf, die auf Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit und Panik hindeuten.

Gründe für das schlechte Wahlergebnis der deutschen Linken gesucht

In einer kurzen Bewertung des schlechten Wahlergebnisses der deutschen Linken bei den EU-Wahlen nennt der Chefredakteur des Neuen Deutschland einige triftige Gründe (1):

„Von den gegenüber 2014 zusätzlichen rund acht Millionen Wahlteilnehmern blieb unterm Strich Nullkommanix für die LINKE übrig. Sie schmort, wenn man so will, im eigenen Saft.

Dabei böte der Niedergang der großen Parteien beste Bedingungen, sich zu profilieren. Stattdessen stagniert die LINKE von kommunal bis kontinental, vielerorts verliert sie. Das hat mit internen Auseinandersetzungen über die Aufstehen-Bewegung und über die Migrationspolitik zu tun, mit Differenzen in der Bewertung der EU, mit linken Konkurrenzkandidaturen, auch mit einer internationalen Krise der Linken in Zeiten einer rechtspopulistischen Offensive.

Vor allem aber: Der Linkspartei ist es über ihre treue Anhängerschaft hinaus nicht gelungen, das Gefühl zu vermitteln, dass sie einen relevanten Beitrag zur Lösung dringender Zukunftsfragen leisten kann. Vom Status einer linken Volkspartei im Osten Deutschlands hat sie sich stellenweise weit entfernt, sie steht eher am Rande der politischen Auseinandersetzungen. Die gesellschaftliche Frontlinie verläuft derzeit für viele Menschen zwischen Grünen und AfD. Da ist es ein sehr weiter Weg hin zu jenen neuen linken Mehrheiten, um die LINKE-Chefin Katja Kipping jetzt kämpfen will.“

An all diesen Gründen dürfte was dran sein.

Kampf um politische Hegemonie in der Gesellschaft?

Der Bundesgeschäftsführer der Linken hob vor allem auf den letzten Punkt des ND-Chefredakteurs ab, auf die Fähigkeit der Linkspartei, Einfluss zu gewinnen über ihre traditionelle Anhängerschaft hinaus. So sagte Jörg Schindler im Interview mit dem Neuen Deutschland (2):

Warum konnte die LINKE nicht von den SPD-Verlusten profitieren, nicht von der höheren Wahlbeteiligung, nicht vom gewachsenen Interessen am Thema Klima?

Immer wichtiger für die politische Hegemonie in der Gesellschaft ist, was die jungen Wähler denken. Auch wenn sie nicht die Mehrheit sind. Aber sie beeinflussen das Stimmungsbild erheblich. Für sie sind die Wahlen, vielleicht sogar ihre ersten, ein wichtiger Teil der Sozialisierung. Bei den Erstwählern führen deutlich die Grünen, dann kommen CDU und Die Partei und dann erst wir, mit acht Prozent und die SPD mit sieben. Das zeigt, dass die politische Hegemonie derzeit bei den Grünen liegt. Alle anderen müssen die Sprache der Grünen sprechen, um gehört zu werden. Und das ist auch unsere Herausforderung. Wir sind bei den Jungwählern, im Kontakt zu denen, die die sozialen Bewegungen antreiben, stehengeblieben. Da müssen wir uns erneuern.“

Auch da ist sicher was dran. Aber die Auffassung, man müsse um die politische Hegemonie in der Gesellschaft kämpfen, stößt uns ab. Mit Diktatur der Arbeiterklasse hat dieses Ziel wahrscheinlich rein gar nichts mehr zu tun. Der Bundesgeschäftsführer der Linken, Jörg Schindler, will den jungen Hegemonen mehr Möglichkeiten geben, sich in der Partei durchzusetzen: „Wenn wir um die Hegemonie bei jungen Menschen kämpfen wollen, müssen die jungen Mitglieder und Sympathisanten mehr Möglichkeiten bekommen, sich durchzusetzen.“

Fokussierung der Linken auf eine radikale ökologische Wende?

Welche politischen Ziele er mit dieser Strategie verfolgt, drückt Jörg Schindler so aus: „Wir müssen deutlich und konkret sagen, wie eine radikale ökologische Wende mit sozialer Sicherheit verbunden werden soll.“ Der Bundesgeschäftsführer orientiert also auf eine ökologische Wende. Diese will er mit sozialer Sicherheit verbinden. Vom Frieden und antimilitaristischer Politik, einem bisherigen Alleinstellungsmerkmal der Linken, spricht er gar nicht.

Die Zuspitzung auf eine radikale ökologische Wende dürfte nicht mehr viel zu tun haben mit dem breiten politischen Programm, dass die Linke nach den EU-Wahlen 2014 in einem Positionspapier formulierte unter dem Titel „DIE LINKE: Motor für eine soziale und ökologische Gerechtigkeitswende“ (3). Damals, vor fünf Jahren, nahm sich die deutsche Linke sieben Schwerpunkte vor. Erstens Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums vor allem durch Steuern. Zweitens Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und der öffentlichen Infrastruktur. Drittens keine Ausgrenzung durch prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, für soziale Sicherheit und Selbstbestimmung. Viertens Demokratie entwickeln, Geheimdienste abwickeln. Fünftens Ein neues Modell der ökonomischen Entwicklung – Gerechtigkeit und sozialökologischer Umbau. Sechstens Wohlstand und Solidarität in Europa jenseits von Autorität und Dumpingwettbewerb. Siebtens Frieden und Gewaltverzicht.

Das Programm der europäischen Linkspartei war eigentlich in Ordnung

Auch die Partei der Europäischen Linken (EL), in der sich 2004 26 linke und links-grüne Parteien zusammengeschlossen haben, formulierte kurz vor den EU-Wahlen 2019 unter der Präsidentschaft von Gregor Gysi ein ähnlich umfassendes Programm. Uwe Sattler fasste es im Neuen Deutschland so zusammen (4):

„(…) wie es Hildebrandt (Cornelia Hildebrandt beschäftigt sich in der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit der Entwicklung von linken Parteien in Europa, P.F.) ausdrückt: ‚Die EL muss angesichts zum Teil geringer nationaler Ressourcen ihre europäischen Projekte so entwickeln, dass sie national und europäisch gesellschaftlich wirksam werden können.‘

Immerhin tritt die europäische Linkspartei mit einem ordentlichen Wahlprogramm und zwei Spitzenkandidaten zur EU-Wahl Ende Mai an – wenngleich diese nicht annähernd die Strahlkraft eines Alexis Tsipras haben, mit dem die EL 2014 als ‚Gesicht‘ ins Rennen ging. Ende Januar nominierte der Vorstand Violeta Tomic von der slowenischen Partei Levica und den ehemaligen Generalsekretär der Metallarbeitergewerkschaft von Belgien Nico Cue. ‚Mit diesen beiden Kandidaten machen wir ein klares Angebot für die Menschen in Europa, weil wir auf der Seite derjenigen stehen, die nicht den wachsenden Widerspruch zwischen Reichtum und Armut akzeptieren‘, erklärte Gysi.

Die in sechs Hauptpunkte gegliederte EL-Wahlpattform (neues Modell sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung, Ökologie, Demokratisierung, Grundrechte, faire Welthandels- und Wirtschaftsbeziehungen, Frieden) sieht u. a. eine Fixierung der Europäischen Zentralbank auf Beschäftigungsziele, die Förderung erneuerbarer Energien, verstärkte Bürgerbeteiligung an EU-Entscheidungen, das Recht auf kostenlose Bildung, die Berücksichtigung von Menschenrechten in Handelsverträgen sowie die Auflösung der NATO vor. Das ist sicher ein kleiner gemeinsamer Nenner. Aber er umreißt Kernfragen linker Politik für das kommende Jahrzehnt.“

Wenn das die Kernfragen linker Politik für das kommende Jahrzehnt sind, so ist die Zuspitzung des Bundesgeschäftsführers auf eine radikale ökologische Wende falsch.

Das Marxistische Forum zu den Ursachen des Debakels

Auch Ekkehard Lieberam, Sprecher des Marxistischen Forums Sachsen, äußert sich im Gespräch mit der jungen Welt zu den Gründen des Wahlergebnisses der Linken (5):

Welche Ursachen hat das Debakel?

Die werden deutlich, wenn man sich die Ergebnisse genauer anschaut. Die Linke konnte bundesweit faktisch keine Stimmen von der SPD gewinnen, auch keine aus dem Lager der Nichtwähler. Bei den Lohnabhängigen hat sie weitere Verluste hinnehmen müssen, von den Wählern unter 30 Jahren gewann sie bei der EU-Wahl gerade einmal sieben Prozent, eben soviel wie die Satirepartei Die PARTEI. Für mich heißt das: Das Erscheinungsbild der Partei ist zur Zeit wenig anziehend. (…)

Wie tief geht die Krise?

Ich vergleiche sie mit der Existenzkrise der PDS nach der Bundestagswahl 2002. Die PDS hatte vier Prozent der Stimmen erhalten und war nur noch mit zwei Abgeordneten, die in Berlin Direktmandate errungen hatten, im Bundestag vertreten. Am 26. Mai 2019 waren es 5,5 Prozent. In Ostdeutschland erhielt die PDS damals 16,9 Prozent, jetzt 13,8 Prozent. Für mich bedeutet das, dass nicht nur CDU und SPD in einen Abwärtsstrudel geraten, sondern auch Die Linke. Die PARTEI hat fast eine Million Stimmen bei der EU-Wahl erhalten, also nahezu halb soviel wie Die Linke, die allein an die Grünen 610.000 Stimmen abgegeben hat.

Der Zuwachs bei der Bürgerschaftswahl in Bremen kann dann zur Katastrophe werden, wenn Die Linke sich dort an der Regierung beteiligt und dabei die Schuldenbremse und die neoliberale Politik mit durchsetzt. Dann verschärft sich diese Krise auch im Westen.

Was ist in der Partei seit den Bundestagswahlen 2017 passiert?

Schon beim damaligen Ergebnis war trotz des leichten Zugewinns im Vergleich mit 2013 klar, dass die Partei ihren kämpferischen Elan verloren hatte und zunehmend als eine Partei wie alle anderen betrachtet wurde. In ihr hat sich erneut wie schon in der PDS eine Schicht von Funktionären, Mandatsträgern und Angestellten herausgebildet, die von der Partei leben. Das ist der Hintergrund dafür, dass die Partei zu den Regierenden Brücken schlagen will und sich nach und nach Eckpunkten der deutschen Staatsräson unterwirft, zum Beispiel in der Außenpolitik und dort vor allem gegenüber Russland, mit der Politik der Sozialpartnerschaft, der Akzeptanz der Schuldenbremse, der Leugnung des Klassencharakters staatlicher Institutionen, bei der Diffamierung der DDR und der Übernahme des Konstrukts, die freiheitlich-demokratische Grundordnung werde von rechts und links bedroht usw. (…)

Fortwährend wird vor Wahlen angekündigt, wenn Die Linke als Regierungspartei mitgestalten könne, stehe ein politischer Richtungswechsel bevor. Der kam nie.

Die Wirkung war die gleiche wie 2002: Ihren Status als erste Adresse des Protests gegen Prekarisierung, soziale Ungleichheit, Kriegspolitik und Umweltzerstörung hat die Linkspartei verloren. Sie wird in wachsendem Maß mit ‚denen da oben‘ gleichgesetzt. (…)

Im Dezember ist es 30 Jahre her, dass die SED-PDS geschaffen wurde. Gibt es etwas Übergreifendes in dieser Zeit?

Für mich ist das die ungeheure Integrationskraft des parlamentarischen Systems. Bei der unerwünschten, aufmüpfigen PDS hatte es anfangs nicht gewirkt, aber dann kamen Begehrlichkeiten und Verlockungen. Das wiederholte sich, wenn auch in ganz anderen Formen, bei der Linkspartei. Für mich ist es die wichtigste geschichtliche Lehre, dass man sich dem nicht entziehen kann. Wobei das nicht von mir erfunden wurde. Darüber haben Rosa Luxemburg und Lenin schon geschrieben, und Theoretiker wie Agnoli, 1925–2003, oder Wolfgang Abendroth, 1906–1985.“

Die Parteivorsitzende Katja Kipping orientiert auf eine Linksregierung, die „die Mitte deutlich besser stellt“

Auch die beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger äußerten sich in getrennten Statements unmittelbar nach der Wahl. Katja Kipping in einer Erklärung während der Sitzung des Parteivorstands (6): „Die Wahlen am 26. Mai sind für uns ein Warnsignal, das wir ernst nehmen müssen. Bei einem Wahlergebnis von 5,5 Prozent müssen wir unsere Strategie und Haltung überprüfen. Wenn unsere Wählerinnen und Wähler glauben, dass ihre Stimme für uns vielleicht richtig, aber irrelevant ist, weil die LINKE nichts verändern kann, dann stagnieren oder verlieren wir. Das ist bei den Europawahlen geschehen“.

Katja Kipping klammert sich an das beispielhafte Ergebnis der Wahl zur Bremer Bürgergesellschaft, die gleichzeitig mit der EU-Wahl stattfand. Die Linke hat dort zwar um 1,8 Punkte zugelegt auf 11,3 Prozent und wird jetzt gebraucht für ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis, weil es wegen der Verluste der SPD für Rot-Grün nicht mehr reicht. Aber das ganze spielt sich in einem Bundesland mit gerade mal 680.000 Einwohnern ab, ist also nicht so relevant.

Auch die Taktik, die Katja Kipping zu den Bundestagswahlen anpeilt, klingt nicht nur „verwegen“ – wie sie selbst einräumt –, sondern illusorisch: „Wir als LINKE müssen dazu beitragen, dass bei den nächsten Bundestagswahlen eine Entscheidungssituation entsteht, in der SPD und Grüne Farbe bekennen müssen: Gehen sie nach links oder gehen sie nach rechts. Das klingt verwegen, aber das ist der Weg, den wir gehen müssen.“ Kipping peilt tatsächlich jetzt schon eine Linksregierung an, in der die Linke so stark ist, dass sie SPD und Grüne zu einer anderen Politik herausfordern kann.

Die Parteivorsitzende der Linken fühlt sich durch eine angeblich „neue gesellschaftliche Dynamik“ beflügelt. Progressive Themen stünden nun im Mittelpunkt, wie Klimaschutz oder Vergesellschaftung. „Etwas Neues kann beginnen, etwas Neues, das aus der Gesellschaft selbst kommt. Dies ist den neuen Bürger*innenprotesten zu verdanken. Sei es der Klimastreik, die Seenotrettung oder die zahlreichen Mieter*inneninitiativen.“

Katja Kipping sieht neue linke Mehrheiten heranrücken „für mutigen Klimaschutz, für Friedenspolitik und für einen sozialen Aufbruch“. Kipping nennt wenigstens Klimaschutz und Friedenspolitik in einem Atemzug, während Bernd Riexinger in seinem Statement die Friedenspolitik völlig aufgibt (siehe weiter unten). Allerdings formuliert Kipping das Ziel einer deutlichen Besserstellung nicht etwa der Prekären, niedrig Entlohnten, Leiharbeiter etc., sondern der „Mitte“:

„Kurzum, dieses Land braucht einen Kurswechsel hin zu einer Linksregierung, die

• die Mitte deutlich besser stellt und alle vor Armut schützt,

• die allen Arbeit garantiert, die zum Leben passt,

• die mit Klimaschutz und Friedenspolitik sicherstellt, dass wir alle eine Zukunft auf dem Planeten haben.“

Kipping will also die Mitte deutlich besser stellen. Was ist diese Mitte? Die Mitte ist zum Beispiel das, was die Union der SPD entwendet hat, so Michael Stürmer in der Welt (7). Es gibt auch eine Magie der Mitte, meint Michael Stürmer: „Hier werden Wahlen gewonnen und verloren, auch heute noch.“ „Wer die politische Mitte preisgibt, verliert jede Machtchance“. Die Mitte verortet sich nicht im überkommenen links-rechts-Schema, sondern im magischen Wertedreieck mit den Eckpunkten Freiheit, Gleichheit und Ordnung.

„Die Mitte ist ein ungefährer Ort“, stellt Michael Stürmer fest, „Aber wer auf sie verzichtet, kann keinen umfassenden Politikentwurf liefern, und wer sie freiwillig preisgibt, verliert die Machtchance (…)“ Auf diese „Mitte“ will sich also Katja Kipping schwerpunktmäßig verlegen und sie auch noch „deutlich besser“ stellen.

Diese Strategie, die die Parteivorsitzende hier scheinbar aus dem Ärmel schüttelt und die sicher von keiner Beschlusslage gedeckt ist, ist umso haarsträubender, wenn man dazu nimmt, dass die Linke bei diesen Wahlen nur 6 Prozent der Arbeiterstimmen holte. An die will sich die Partei vorrangig gar nicht mehr wenden?! Will man die Arbeiter der AfD überlassen, die 17 Prozent der Arbeiterstimmen holte, oder der Union mit 27 Prozent der Arbeiterstimmen?

Riexinger klammert sich an alles, was gerade in ist, und wirft dabei den Antimilitarismus über Bord

Bernd Riexinger präsentierte postwendend sechs Thesen zum Wahltag (8).

Als Erstes stellte Riexinger fest, die Linke habe es nicht vermocht, den Wahlkampf inhaltlich zu prägen. Nun, die Hauptparole der Linken „Europa nur solidarisch“ war auch nicht gerade inhaltlich.


Nicanor Cué ist ein in Spanien geborener belgischer Gewerkschafter und Politiker. Er war zwei Jahrzehnte lang Generalsekretär des Generalverbandes der belgischen Metallarbeiter. Cué, Spitzenkandidat für den Vorsitz der Europäischen Kommission im Namen der Europäischen Linken (EL). Hier auf dem Parteitag der Linkspartei in Bonn am 22. und 23. Februar 2019. Urheber: Ferran Cornellà  (CC BY-SA 4.0) https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de


Die Hauptaussagen der Linken auf ihren Bannern und Plakaten lauteten etwa: Konzerne zur Kasse, Mindestlöhne rauf, Flucht hat Ursachen – Waffenexporte stoppen, Tu was gegen rechts! – Solidarität statt Hetze, Mehr Geld für Bildung Bus & Bahn – Reichtum gerecht verteilen, Klima vor Profite – saubere Energie fördern, Privatisierung stoppen, Wir machen Europa sozial.

Waren das also inhaltliche Aussagen? Damit wurden eigentlich wichtige Themen und Ziele aufgeworfen, aber genau keine konkreten Aussagen gemacht. Das heißt die Propaganda der Linken im Wahlkampf war bewusst allgemein gehalten und greifbare, inhaltliche Aussagen wurden vermieden.

Bernd Riexinger stellt es so dar: „Nahezu alle Linksparteien verlieren ebenfalls, unabhängig davon, ob sie mit einem besonders EU-kritischen oder Europa-freundlichem Wahlkampf angetreten sind. Hingegen profitieren leider vornehmlich Neoliberale, Grüne und Rechte. Antworten auf die Herausforderungen der Zeit haben sie nicht, es ging fast ausschließlich um abstrakte Bekenntnisse für oder gegen

Europa. Unterschiede in der Programmatik wurden so in der öffentlichen Debatte kaum deutlich. DIE LINKE hat es nicht vermocht, diese Dynamik umzukehren und den Wahlkampf inhaltlich zu prägen.“

Es scheint aber nicht wahr, was Riexinger behauptet, dass die Linke es nicht vermocht habe, diese Dynamik umzukehren und den Wahlkampf inhaltlich zu prägen. Die Losungen der Linken waren in ihrer Allgemeinheit nicht dazu geeignet, den Wahlkampf inhaltlich zu prägen, und sie waren zu soft, um die von Riexinger beklagte inhaltslose Dynamik der öffentlichen Debatte umzukehren.

Die zweite These Riexinger wollen wir komplett zitieren:

„Von den Schülerinnen und Schülern ist diese Wahl zur Klimawahl gemacht worden. Zwar haben wir als DIE LINKE das Thema der Klimagerechtigkeit stark betont, aber die Stimmen der jungen Wählerinnen und Wähler gingen mehrheitlich an die Grünen, deren vorgebliches Markenzeichen dieses Thema seit Jahrzehnten ist. Nur 2 Prozent der Wählerinnen und Wähler schreiben unserer Partei beim Thema Klimaschutz Kompetenzen zu – während sie uns bedeutend mehr Kompetenzen in punkto soziale Gerechtigkeit zutrauen (plus 4 auf 15 Prozent). Das widerlegt im Übrigen auch die Behauptung, DIE LINKE hätte zu wenig auf soziale Themen gesetzt. Vielmehr müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass eine Mehrheit der Gesellschaft den Klimaschutz als die existenziellere Aufgabe empfindet. Unsere Herausforderung ist nun, dass die Zusammenführung der Positionen für radikalen Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit als selbstverständlich angesehen wird und nicht als ‚Klimaschutz, aber…‘ wahrgenommen wird. Damit durchzudringen, braucht seine Zeit, ist aber meines Erachtens unumgänglich.“

Auch dies scheint nicht wahr in dieser Absolutheit, dass eine Mehrheit der Gesellschaft den Klimaschutz als die existenziellere Aufgabe empfindet. Bernd Riexinger sollte die Ergebnisse seines Wahlforschers Horst Kahrs beachten (9). Das für die Wahlentscheidung wichtigste Thema war zwar bei 48 Prozent der Befragten der Klima- und Umweltschutz. Dicht dahinter folgten aber Soziale Sicherheit mit 43 Prozent und Europa als Friedensprojekt mit 35 Prozent. Außerdem sollte man beachtliche und mehrfache Themenverschiebungen im Vorfeld der Wahl berücksichtigen – zu solchen Themenverschiebungen wird es in nächster Zeit wahrscheinlich auch wieder kommen. Die Linke wäre wahrscheinlich schlecht beraten, wenn sie „radikalen Klimaschutz“ ins Zentrum ihrer Politik stellen würde.

Drittens verhehlt Riexinger nicht den lang anhaltenden, massiven Richtungsstreit um die Migrationsfrage:

„Der monatelange Richtungsstreit nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 sorgte dafür, dass DIE LINKE nach außen ein zerstrittenes Bild abgegeben hat und Zweifel an unseren Positionen in Migrationsfragen aufkamen. Das hat einerseits dazu geführt, dass die Grünen sich als weltoffener Gegenpart zur rassistischen AfD profilieren konnten. Der positive Trend beim Mitgliederzuwachs und in den Umfragen wurde so zunächst gestoppt, vor allem hat es aber viele Mitglieder verunsichert und erschöpft. Es ist daher umso wichtiger, sich wieder stärker auf gemeinsame, in der Partei breit getragene Projekte zu orientieren.“

Da ist was dran und das Desaster ist vor allem der von Sahra Wagenknecht organisierten Bewegung „Aufstehen“ geschuldet. Damit wollen wir uns in der nächsten Folge befassen.

In seiner sechsten These beklagt Riexinger den Erfolg der Kleinparteien, der auch zulasten der Linkspartei gehe. Die Perspektive, die der Parteivorsitzende hier weist, geht aber ausschließlich in Richtung stärkerer Profilierung der Linkspartei und nicht etwa auch in Richtung Zusammenarbeit mit anderen Kräften. Dies ist bedauerlich.

Zusammenfassend versucht Bernd Riexinger, das Wahlergebnis zu relativieren, und fokussiert auf gesellschaftliche Stimmungen und Entwicklungen außerhalb der Parteien wie Fridays For Future, die Kampagne der Linken gegen den Pflegenotstand oder die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen!“ Riexinger glaubt hier, „endlich wieder gesellschaftliche Debatten um Enteignung und einem neuen Sozialismus“ zu erkennen und träumt von einer „konkreten Utopie in der Systemalternative“. Die Aufgabe der Linken sieht er darin: „Wie machen wir noch besser deutlich, dass man beim Klimaschutz zugleich die Eigentumsfrage stellen und sich mit den großen Konzernen und mächtigen Wirtschaftsinteressen anlegen muss?“

Der Vorstand der Linken scheint verzweifelt und klammert sich an jeden Strohhalm. So soll es jetzt das kleine Bremen herausreißen oder eine Berliner Kampagne gegen die „Deutsche Wohnen“. Dabei ist die politische Linie in dieser Kampagne auch in Berlin stark umstritten und wird gerade die Forderung nach Enteignung der Wohnungsbaukonzerne, auf die Riexinger so stark abhebt, wahrscheinlich zu Recht als kontraproduktiv kritisiert, als blose „Luftnummer“ (10).

Es ist schon erbärmlich. Bei seinem Eifer, allen Stimmungen und Bewegungen nachzulaufen, die gerade in sind, wirft Riexinger essenzielle Positionen der Linken über Bord wie zum Beispiel Friedenspolitik/Antimilitarismus. Dieses Thema kommt in seinem Thesenpapier, das er den Mitgliedern zur Diskussion vorschlägt, überhaupt nicht mehr vor.

Peter Feininger, 10. Juli 2019

wird fortgesetzt

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alle Artikel der Serie finden sich unter themen/Europa http://www.forumaugsburg.de/s_3themen/Europa/index.htm

 

1 Hübner, Wolfgang. „Am Rande. Wolfgang Hübner über das Wahlergebnis der Linkspartei“. Neues Deutschland, 27. Mai 2019. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1119686.linkspartei-bei-der-europawahl-am-rande.html.

2 Hübner, Wolfgang. „„Wir müssen radikaler werden“. LINKE-Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler über die EU- und Kommunalwahlergebnisse“. Neues Deutschland, 28. Mai 2019. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1119776.linke-wir-muessen-radikaler-werden.html.

3 Fraktion DIE LINKE im Bundestag. „DIE LINKE: Motor für eine soziale und ökologische Gerechtigkeitswende“. Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, 25. August 2014. https://www.linksfraktion.de/themen/positionspapiere/detail/die-linke-motor-fuer-eine-soziale-und-oekologische-gerechtigkeitswende/.

4 Sattler, Uwe. „Zwischen Aufstehen und Untergang. Vor 15 Jahren wurde die Partei der Europäischen Linken gegründet. Die damalige Aufbruchstimmung ist dem Kampf um Zusammenhalt und neue Strategien gewichen.“ Neues Deutschland, 18. Mai 2019. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1118998.europaeische-linke-zwischen-aufstehen-und-untergang.html.

5 Arnold Schölzel. „„Prekarisierte Schichten betreten die politische Bühne“. Gespräch mit Ekkehard Lieberam. Über das Wahldebakel der Linkspartei und dessen Ursachen, die Integrationskraft des Parlamentarismus und die Anpassung an den Politikbetrieb.“ junge Welt, 15. Juni 2019. https://www.jungewelt.de/artikel/356934.die-linke-prekarisierte-schichten-betreten-die-politische-bühne.html

6 Katja Kipping. „Das Warnsignal ernst nehmen. Erklärung von Katja Kipping im Parteivorstand nach den Wahlen am 26. Mai 2019“. DIE LINKE, 27. Mai 2019. https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/das-warnsignal-ernst-nehmen/.

7 Stürmer, Michael. „Parteien: Wer die politische Mitte preisgibt, verliert jede Machtchance“. Welt, 3. Dezember 2018. https://www.welt.de/debatte/kommentare/article184881238/Parteien-Wer-die-politische-Mitte-preisgibt-verliert-jede-Machtchance.html.

8 Bernd Riexinger. „Thesen zum Wahltag. Sechs Gedanken, einige Fragen und ein erster Ausblick nach den Wahlen zum Europäischen Parlament, zur Bremischen Bürgerschaft und zu den Kommunalwahlen am 26. Mai 2019“. DIE LINKE, 28. Mai 2019. https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/thesen-zum-wahltag/.

9 Horst Kahrs. „Die Wahl zum Europäischen Parlament in Deutschland. Wahlnachtbericht und erster Kommentar zum Wahltag am 26. Mai 2019“. Rosa Luxemburg Stiftung, Mai 2019. https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/wahlanalysen/WNB_EPW19.pdf.

Siehe hierzu auch Teil 3 unserer Artikelserie, letzter Abschnitt „Themenverschiebungen“

10 Christian Sprenger. „Mietenpolitik: Bloß eine Luftnummer. Contra: Das Berliner Volksbegehren?»Deutsche Wohnen und Co. enteignen«?könnte ins Leere laufen“. junge Welt, 15. Juni 2019. https://www.jungewelt.de/artikel/356855.mietenpolitik-bloß-eine-luftnummer.html.


   
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