EU-Wahlen, Teil 4

Die EVP Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) ist der eigentliche Verlierer der Wahl, die Linke der eigentliche Gewinner

Das Ergebnis der sozialdemokratischen Fraktion ist beachtlich. Linke Tendenzen werden honoriert, rechte Tendenzen werden abgestraft


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Die EVP als „Wahlsieger“ und ein Triumph der „Populisten“ – eine Verzerrung der Entwicklung durch die Medien

„In Europa triumphieren die Populisten“, „Die Europawahl ist zu einem Triumphzug für die EU-Gegner geworden“[1] , „Populistische Parteien vom linken und rechten Rand werden zukünftig in Europa mehr Einfluss haben“[2] – so lautet etwa der Tenor in der Berichterstattung der bürgerlichen Medien zum Ergebnis der Europawahl. Gleichzeitig wird Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat der EVP als Wahlsieger ausgerufen. Dies verzerrt die Dinge doch ziemlich.

Unerträglich ist dabei die notorische Gleichsetzung bzw. Gleichbehandlung linker und rechter Gruppierungen. Ist die GUE/NGL Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke, die erfreulicherweise 10 Mandate hinzugewinnen konnte, eine „populistische“ Fraktion? Vergleichbar mit der EFD Fraktion „Europa der Freiheit und der Demokratie“, die von der rechtspopulistischen britischen UKIP und der Lega Nord dominiert wird? Vergleichbar mit den Fraktionslosen (NI), die vom Front National dominiert werden? Oder vergleichbar mit den Sonstigen, unter denen sich als starke rechte Kräfte die AfD, die griechischen Rechtsextremen der Morgenröte und der polnische KNP Kongress der Neuen Rechten befinden?

Die EVP Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) ist der eigentliche Verlierer der Wahl

Die EVP Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) wird als Wahlsieger gehandelt. Dabei hat sie mit 214 Mandaten im Europaparlament nur noch einen relativ geringen Vorsprung vor den Sozialdemokraten, die sich mit 191 Mandaten erstaunlich gut gehalten haben. Zuvor hatte die S&D Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten 196 Mandate. Tatsächlich hat die EVP eine krachende Niederlage eingefahren und ist von 274 Mandaten auf 214 abgestürzt. Die EVP hat also 60 Sitze im europäischen Parlament verloren, weit mehr als die sozialdemokratische, liberale, grüne und konservative Fraktion zusammen verloren haben (diese verloren 40 Sitze). So sehen also „Wahlsieger“ aus.

Mit dieser Art Berichterstattung wird auch bezweckt, das relativ stabile Ergebnis der Sozialdemokraten herunterzuspielen und das gute Ergebnis der Linken ganz zu verschweigen.


Tabelle: eigene Darstellung, Daten: http://www.ergebnisse-wahlen2014.eu/de/seats-group-member-2014.html

EVP: Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten)
S&D: Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten
ALDE: Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa
Grünen/EFA: Die Grünen/Freie Europäische Allianz
EKR: Europäische Konservative und Reformisten
GUE/NGL: Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke
EFD: Fraktion „Europa der Freiheit und der Demokratie“
NI: Fraktionslos – Mitglieder, die keiner Fraktion angehören
Sonstige: Neue Mitglieder, die keiner Fraktion des scheidenden Parlaments angehören

Voraussetzung für Bildung einer Fraktion im europäischen Parlament: Jede politische Gruppe muss sich aus 25 MEPs aus mindestens 7 verschiedenen Mitgliedstaaten zusammensetzen.
Zur Zuordnung der Parteien der Nationalstaaten zu den Fraktionen s. „Sitze nach Mitgliedstaat - Absolut - Europäisches Parlament“ http://www.ergebnisse-wahlen2014.eu/de/seats-member-state-absolut.html.



Die Linke ist der eigentliche Wahlsieger

Die GUE/NGL Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke hat sich von 35 auf 45 Sitze verbessert, das ist immerhin ein plus von 29 Prozent. Damit ist die Linke der eigentliche Wahlsieger. Die Griechen stellen in der GUE/NGL 8 Sitze, die vor allem aus einem Zuwachs von Syriza von 4,7 auf 26,6 Prozent in Griechenland resultieren. Aber auch die kommunistische KKE stellt zwei von diesen 8 Sitzen. Sie fällt mit 6,1 Prozent zwar leicht ab von ihrem Ergebnis bei den EU-Wahlen 2009 (8,35 Prozent), konnte sich aber von dem Einbruch bei den nationalen Parlamentswahlen 2012 (4,5 Prozent) wieder erholen. Die griechische Linke ist damit Wahlsieger in Griechenland und stellen mit 8 Sitzen die stärkste Gruppe in der GUE/NGL Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke, noch vor der deutschen Linken, die 7 Sitze hat.

Noch erfolgreicher war die Linke in Spanien. Die Vereinte Linke (IU) konnte im Baskenland wie in ganz Spanien ihr Ergebnis mehr als verdoppeln und kam jeweils auf knapp zehn Prozent. Daraus resultieren 6 Sitze im EU Parlament für die GUE/NGL. Hinzu kommt die linke Protestpartei Podemos, die aus dem Stand weitere 5 EU Abgeordnete stellt. Sollten die anvisierten Verhandlungen zwischen Podemos und europäischer Linkspartei positiv verlaufen, wird die spanische Gruppe der GUE/NGL aus 11 Abgeordneten bestehen, und damit die stärkste Gruppe innerhalb der Linksfraktion im EU-Parlament stellen. Mit insgesamt 50 Abgeordneten wäre die GUE/NGL im EU-Parlament dann fast gleichstark wie die Fraktion der Grünen. Das neue Deutschland schreibt dazu:

Absturz der Großen, Aufstieg der Kleinen. Über Gewinner und Verlierer gibt es in Spanien keine zwei Meinungen: Die in Madrid regierende Volkspartei (PP) und die sozialdemokratische PSOE, die seit dem Übergang zur Demokratie vor knapp 40 Jahren das politische Geschäft in Spanien faktisch zu zweit beherrschen, sind die Verlierer mit zusammen fast 30 Prozent Stimmeneinbußen.

Der große Gewinner war hingegen die Überraschungspartei Podemos (Wir können), die erst im März 2014 gegründet wurde, mit 7,93 Prozent der Stimmen. Schlagzeilen machte die Partei um den Vorsitzenden Pablo Iglesias bereits in der außerparlamentarischen Protestbewegung des 15-M, als Hunderttausende Menschen aus ganz Spanien in einem Sternmarsch nach Madrid zogen, um gegen das derzeitige System zu protestieren.

Aus diesem Spektrum wurde die Partei Podemos gegründet und sie wurde aus dem Stand zur viertstärksten Kraft bei den Europawahlen. 1,2 Millionen Spanier gaben den »Empörten« ihre Stimme und können so fünf Abgeordnete in das EU-Parlament schicken. Spitzenkandidat Iglesias war in den letzten Monaten unermüdlich in den Talkshows und auf der Straße unterwegs, um für die eigene Sache zu werben.[3]

Das Ergebnis der sozialdemokratischen Fraktion ist beachtlich

Das Ergebnis der S&D Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten, die diesmal fast mit der EVP gleichziehen konnten, ist nicht zu verachten. Obwohl die Sozialdemokraten, die sich oft auch gerne Sozialisten nennen, ihren Rechtskurs in Ländern wie Frankreich, Spanien und Griechenland schwer büßen mussten, konnten sie sich doch mit 191 Abgeordneten im EU-Parlament fast ohne Einbuße behaupten und stellen dort ein großes Potenzial dar. In Italien, Großbritannien, Rumänien und Deutschland legten sie sogar kräftig zu. Über den Zuwachs der deutschen SPD werden wir uns in einem eigenen Artikel Gedanken machen.

In Großbritannien konnte sich die Labour-Partei von 15,3 auf 24,7 Prozent verbessern und hat jetzt 20 Sitze im EU-Parlament. Damit konnte Labour die Konservativen überrunden, die 2009 mit Abstand die stärkste Kraft bei den Europawahlen waren und jetzt auf 19 Sitze abgefallen sind. Dass die rechtspopulistische UKIP mit 26,8 Prozent und 24 Sitzen vorne liegt, soll hier nicht verschwiegen werden. Aber dieses Ergebnis muss nicht haltbar sein und Labour ist zweitstärkste Kraft.

In Italien haben die Sozialdemokraten (Demokratische Partei PD) einen triumphalen Sieg eingefahren. Sie sind mit 40,8 Prozent stärkste Partei geworden und ziehen mit 73 Parlamentarier nach Brüssel. Die rechtsextreme Forza Italia (FI) von Expremier Silvio Berlusconi erlitt mit 16,8 Prozent eine schwere Schlappe. 2009 war es noch umgekehrt: Da hatte der damals regierende Berlusconi 40 Prozent erreicht, während die PD nur auf 29 Prozent kam.

Auch in Deutschland konnten sich die SPD wieder erholen von 20,8 auf 27,3 Prozent, während die traditionellen Konkurrenten von Union, Grünen und FDP alle abgebaut haben.

In Frankreich ist zwar mit dem Durchmarsch des Front National von 6,3 auf 25 Prozent eine kritische Situation entstanden und 14 Prozent für die Sozialisten von der PS, die sich zur sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament zählen, sind beunruhigend. Aber die PS hatte bei den Europawahlen 2009 auch nur 16,5 Prozent. D.h., der Absturz der PS ist nicht so gewaltig, wie in den Medien immer hervorgehoben wird. Die konservative UMP ist viel heftiger abgestürzt von 27,8 auf 20,8 Prozent und die Grünen haben ihr Ergebnis von 2009 diesmal fast halbiert (von 16,3 auf 8,9 Prozent).

Linke Tendenzen bei den Sozis werden honoriert, rechte Tendenzen abgestraft

Die Entwicklung in den einzelnen EU-Staaten lassen sich kaum mehr überblicken oder zusammenfassen. Sie sind aber die Grundlage für das statistische Gesamtergebnis der Europawahlen. Wir wollen hier beispielhaft nur kurz auf Frankreich und Italien eingehen. Es ist wohl so, dass die französische PS (Parti socialiste) den politischen Kredit, der dem sozialistischen Lager des amtierenden Staatspräsidenten François Hollande im Jahr 2012 mit 295 Sitzen die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung brachte, restlos verspielt hat.


Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, erklärt uns, was es heißt, „Europa neu [zu] denken“:

… Ohne ein gemeinsames Grundkapital an kulturellen Werten wäre die Schaffung einer Europäischen Union, wie wir sie heute kennen, unmöglich gewesen. Das Band, welches die Europäer eint, ist eben jener christlich-neuhumanistische Geist. Wer das kulturelle Erbe Europas mobilisieren will, der muss zuerst die Integration räumlich begrenzen. Der Beitritt immer neuer Kandidaten zur Europäischen Union verändert zusehends deren Qualität. Eine politische Union, die deutlich über das hinausgeht, was mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit bei Strafsachen erreicht wurde, lässt sich nicht in einem Raum realisieren, der vom Atlantik bis zum Ural geht. Gleichzeitig wird niemand die erreichte Integration und die Befriedung dieses Raums gefährden wollen. Der Ausweg kann nur in einem Europa unterschiedlicher Integrationsräume liegen. Wir müssen den Mut aufbringen, Kerneuropa unter Anbindung an frühe Einigungsschritte als Vision neu zu denken und damit als Vehikel für die politische Einigung zu sehen, um zugleich die heutige Union als ökonomische Zweckgemeinschaft stabilisieren zu können. Drei Schritte weisen in diesem Sinne nach vorne:

(1) Die Gestaltung differenzierter Integrationsräume ist keine Absage an die jüngeren und peripheren Mitglieder der Union, sondern bietet die Chance einer realistischen Gestaltung angesichts unterschiedlicher Ausgangspositionen und nationaler Präferenzen. Dabei lassen sich auch für den großen Integrationsraum stärkere Verbindungen schaffen, indem jene Politikbereiche, die über nationale Interessen weit hinausgehen und regionsweite externe Effekte generieren – wie Verteidigung und Infrastrukturnetze –‚ in gemeinsamer Verantwortung organisiert werden. Dafür sind spezielle Finanzierungen begründbar, eine europäische Steuer für die Verteidigung und Eurobonds für die Infrastruktur.

(2) Die Entwicklung dieser Potenziale setzt sich in der gemeinsamen Währung fort. Europa benötigt diese Grundlagen wirtschaftlicher und politischer Stärke, um weltpolitisch nicht von einer G 2 aus USA und China marginalisiert zu werden. Nur Europa, aber kein einzelnes Mitglied, kann in diesem Konzert glaubwürdig und kräftig seine Stimme erheben. Nur so wird daraus G 3. Wir können es uns deshalb nicht mehr leisten, diplomatisch als Europäer zu versagen, wie es angesichts der revolutionären Bewegungen in Nordafrika der Fall war.

(3) Die Bildung eines Kerneuropas um Frankreich und Deutschland als Teil des großen Integrationsraums und damit die Stärkung des Zentrums (Herfried Münkler) ist die besondere Herausforderung unserer Zeit. Dies wird nur gelingen, wenn das Potenzial kultureller Gemeinsamkeiten neu bewertet wird. Europa steht trotz seiner Vergangenheit voller Konflikte zugleich für das Bemühen um Frieden. Friede durch Recht und Friede durch Säkularisation des Politischen, Aufklärung, Vernunft und Freiheit, kulturelle Vielfalt und politische Differenzierung haben unverändert eine hohe Strahlkraft, weil sie die geronnene Erfahrung eines historischen Raums präsentieren und nicht als allfällige politische Topoi daherkommen. Europa ohne kulturelle Dimension verstehen und gestalten zu wollen, wird jedenfalls dauerhaft nicht gelingen können.

Michael Hüther, 29.7.2011 „Europa neu denken – Kern und Peripherie“ http://www.iwkoeln.de/de/presse/gastbeitraege/beitrag/67204


Hollande hatte damals im Wahlkampf einen Kurswechsel in der Krisenpolitik angekündigt. Er werde von der Nachahmung der deutschen Agenda-2010-Politik abgehen. Steuerliche Entlastungen der Werktätigen waren angesagt, Sanierung des Staatshaushalts durch Belastung der Reichen, 60.000 neue Stellen im Bildungswesen, Erhöhung des Mindestlohns, Rücknahme der Rentenreform Sarkozys, Herabsetzung des Rentenalters für viele wieder auf 60 Jahre und vieles mehr. Und Hollande ist in den Monaten nach seinem Wahlsieg 2012 tatsächlich daran gegangen, eine linkssozialdemokratische Politik in diese Richtung zu machen.

Inzwischen setzt sich die deutsche Dominanz nicht nur wirtschaftlich, sondern auch immer stärker politisch durch – auf Kosten Frankreichs. Der Widerstand der französischen Sozialisten dagegen ist zusammengebrochen. Sinnfällig wurde dies durch Pressemeldungen zu Anfang dieses Jahres, dass Peter Hartz auf Einladung eines den französischen Sozialisten nahestehenden Think Tanks zu Gesprächen mit Politikern und Journalisten nach Paris eingeladen worden sei. Hollande dementierte zwar, dass Peter Hartz offizieller Berater des französischen Präsidenten werde, aber das Handelsblatt entdeckte einen „neuen Hollande“:

Hollande selber wollte nicht von einer Wende in seiner Politik sprechen: „Ich will beschleunigen. Wenn Sie dabei gleichzeitig wenden, fliegen Sie aus der Kurve.“ Dennoch: Der Staatschef hat sich bislang stets als Sozialist bezeichnet, wollte „die Austerität“ bekämpfen und explizit eine Alternative zur deutschen Politik marktwirtschaftlicher Reformen verkörpern. Am Dienstag erlebte man einen neuen Francois Hollande: Der gab als oberstes politisches Ziel an, dass Frankreich wirtschaftlich wieder stärker werden müsse, andernfalls drohe außenpolitisch und international der Abstieg. Um den zu vermeiden, müsse das Land vor allem „mehr und besser produzieren“, und dafür sei „eine Politik des Angebots“ erforderlich.[4]

Wir können hier nicht näher auf diese bedrückende Entwicklung in Frankreich eingehen, bei der Angela Merkel schon lange, bevor Hollande Präsident wurde, mit Sarkozy die Weichen gestellt hatte.[5] Was wir mit dem Beispiel vor allem zeigen wollen, ist, dass linke Reformpolitik in Europa möglich ist, dass sie aber nicht nur gegen die nationale Bourgeoisie durchgesetzt werden muss, sondern auch immer stärker er gegen Deutschland. Einigermaßen verblüffend ist doch, dass eine linke Reformpolitik auch heutzutage erfolgreich sein kann, solange Sozialisten und Kommunisten konsequent auf diesem Kurs bleiben.

Das positive Beispiel dafür scheint gerade in Italien zu laufen. Wir haben weiter oben schon erwähnt, dass in Italien die Sozialdemokraten mit der Demokratischen Partei PD triumphieren und wollen hier kurz eine Analyse aus der jungen Welt zitieren:

Das Erfolgskonzept des PD-Sieges wird in Rom in der Wahlkampfstrategie Matteo Renzis, PD-Chef und Ministerpräsident, gesehen. Renzi hat sich wenig mit den traditionellen EU-Themen befasst, statt dessen mehr nationale Souveränität gefordert, um ein starkes Italien in die EU einzubringen. Dazu hat er sein »Reformkonzept«, mit dem er Italien aus der Krise führen will, in den Mittelpunkt gestellt. Er hat die Provinzen aufgelöst und will demnächst auch den Senat als zweite Kammer abschaffen. Das und eine drastische Senkung der Spitzengehälter im öffentlichen Dienst, verschafft ihm etwas Luft beim Abbau der Staatsverschuldung. Vorgesehene neue Streichungen im Sozial- und Gesundheitswesen hat er bisher nicht bekanntgegeben, dafür Steuersenkungen für Geringverdienende beschlossen, die etwa zehn Millionen Beschäftigten monatlich erst mal 80 Euro mehr in die Lohntüte bringen. Auch wenn sie ihnen später wieder aus der Tasche gezogen werden, dürfte ihm das viele Stimmen aus diesen Wählerschichten eingebracht haben.

Auf der politischen Ebene hat Renzi Berlusconi, der ihn mit seiner faschistoiden FI zu Fall bringen und selbst zurück ins Amt des Regierungschefs will, offen den Kampf angesagt. … Er appellierte, Berlusconi und seiner FI eine Niederlage zu bereiten, was ihm die Stimmen der Antifaschisten sicherte. Die – ebenfalls während des Wahlkampfes – bekanntgegebene Senkung der Militärausgaben, darunter der Verzicht auf den Milliarden Euro verschlingenden Abfangjäger F-35, dürfte der PD die Stimmen der wählerstarken Friedensbewegung gebracht haben. …

Zeitgleich wurden in Piemont und den Abruzzen die Regional- und Landesparlamente gewählt, wo die PD – hier meist in Mitte-links-Bündnissen mit der SEL und auch Kommunisten – der bisher regierenden FI und Lega Nord ebenfalls eine schwere Niederlage beibrachte: Piemont 47,1 zu 22,1; Abruzzen 46,9 zu 29,5 Prozent. Bei den Wahlen der Bürgermeister und Kommunalräte, die in 4095 Gemeinden stattfanden, haben die PD bzw. Mitte-links bereits im ersten Wahlgang ähnlich gute Ergebnisse erzielt.[6]

Wie steht es um die Lager der beiden Spitzenkandidaten im Europaparlament? Das dreifache Kalkül des Sozialdemokraten Martin Schulz

Ausgehend von den Daten in der Tabelle oben lässt sich sagen, dass Martin Schulz eigentlich nie eine Chance hatte, Kommissionspräsident zu werden. Denn dafür müsste er nicht nur vom Ministerrat nominiert werden, sondern auch eine Mehrheit im EU-Parlament hinter sich bringen. Die Mehrheit wären 376 Abgeordnete. Selbst wenn die Fraktionen der Sozialdemokraten, der Liberalen, der Grünen und der Linken Martin Schulz geschlossen unterstützen würden, käme er nur auf 352 Stimmen.

Das Kalkül von Martin Schulz war wohl zunächst, die EVP tatsächlich zu schlagen. Und viel hätte ja nicht gefehlt, es war ja praktisch das Eigenverschulden der Sozialdemokraten und Sozialisten mit ihrem unfassbaren Rechtsschwenk in verschiedenen Ländern, der ihre Siegeschance untergrub. Eine Korrektur dieser Politik in Frankreich und Spanien hätte schon ausreichen können um die Christlich-Konservativen zu überrunden und stärkste Kraft im Europaparlament zu werden. Die S&D hätte damit noch lange nicht die Mehrheit im EU-Parlament gehabt, aber eine bessere Ausgangsbasis, um eine solche Mehrheit einzusammeln und vor allem den Anspruch darauf zu erheben (der Wahlsieg einer Fraktion im EU-Parlament ist Voraussetzung dafür, ihren Spitzenkandidaten überhaupt platzieren zu können).

Das zweite Kalkül von Martin Schulz war ein deutsch-nationales. Zunächst plakatierte er im Wahlkampf unübersehbar dezent: „Martin Schulz. Aus Deutschland.“ In der Schlussphase zeigte sein Wahlkampfteam allerdings ein Plakat, wo neben dem Konterfei von Martin Schulz der Satz stand: „Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden.“ Damit diente er sich dem national eingestellten Wähler aber auch der deutschen Kanzlerin, die ja im Europäischen Rat mächtig was zu sagen hat, als der bessere Kandidat für Deutschland an. Dies deckte der Grüne Daniel Cohn-Bendit gegenüber dem Spiegel auf und riet seiner grünen Europa-Fraktion, deren Ko-Vorsitzender er ist, davon ab, Martin Schulz zu wählen, weil dieser einen „nationalistischen Wahlkampf“ geführt habe:

Auch zuvor im Wahlkampf habe der SPD-Mann kaum eine Gelegenheit ausgelassen, sich als deutscher Patriot zu präsentieren. „Schulz hat geglaubt, er könne als Deutscher die Wahl gewinnen. Aber er ist ja als europäischer Spitzenkandidat angetreten. Mit seinem Auftreten verschärfte er nur die europaweiten Vorurteile gegen Deutschland als Hegemonialmacht in Europa.“

Cohn-Bendit steht mit seiner Kritik an dem umstrittenen Plakat nicht alleine da. Auch in der Sitzung des SPD-Parteivorstands am Montag wurde das Thema kurz kritisch angesprochen. „Schulz hat noch Glück gehabt, dass andere Länder das nicht mitbekommen haben“, sagt der Deutsch-Franzose Cohn-Bendit, der einst zu den Wortführern der Studentenbewegung in Paris gehörte.[7]

Wenn Cohn-Bendit Martin Schulz vorwirft, „in seinem Machthunger alle europäischen Prinzipien verraten und einen nationalistischen Wahlkampf geführt“ zu haben, so tut er dies allerdings nicht von einem linken Standpunkt heraus sondern von einem rechten. Immerhin verließ er die Partei der französischen Grünen im Dezember 2012 mit dem Vorwurf, sie hätten sich von Europa verabschiedet, weil sie den europäischen Fiskalpakt mit seinem Zwang zur „Haushaltsdisziplin“ abgelehnt hätten. So landet ein scheinbar scharfer Kritiker von Martin Schulz wieder auf deutschem Boden und zusammen mit Martin Schulz im Gefolge von Angela Merkel, der Haupteinpeitscherin einer Fiskalunion.

Das dritte Kalkül von Martin Schulz und der S&D war und ist, in der Frage des Kommissionspräsidenten auf die Zerrüttung der EVP und der anderen Konservativen zu setzen, die Liberalen abzuspalten und die Grünen für sich zu gewinnen. Selbst wenn die EVP geschlossen hinter Juncker stünde und ALDE Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa und EKR Europäische Konservative und Reformisten geschlossen hinter sich brächte, wären das nur 324 Abgeordnete. Für eine Mehrheit bräuchte Juncker aber 376 Stimmen.

Aber das konservative Lager steht keineswegs geschlossen hinter Juncker. „Die Regierungschefs aus Großbritannien, Ungarn, Schweden und den Niederlanden hatten aber Bedenken gegen eine schnelle Festlegung auf Juncker“, schreibt der Spiegel z. B.[8] Damit wird der massive Widerstand gegen Jean-Claude Juncker vor allem der Regierungen von Großbritannien und Ungarn heruntergespielt.

Telepolis kommt zum Schluss:

Um eine Mehrheit zu finden, ist Juncker auf die Stimmen der Liberalen und der Sozialdemokraten angewiesen – also auf eine ganz große Koalition im Europaparlament. Beide Fraktionen haben sich bereits grundsätzlich bereit erklärt, Juncker zu küren. Sie dürften aber Bedingungen stellen, genau wie die Grünen. Am Ende könnte erstmals eine förmliche Koalitionsvereinbarung stehen, die dem „Wahlsieger“ enge Fesseln anlegt.[9]

Tatsächlich hätten sich „die Fraktionen des Europaparlaments“ hinter den konservativen Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker gestellt. Dies teilte der Präsident der Sozialdemokraten, Hannes Swoboda, nach einem Treffen mit den Vorsitzenden der politischen Gruppen in Brüssel mit. Damit würde der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Martin Schulz, seinem konservativen Konkurrenten den Vortritt lassen, wie der Spiegel berichtet.[10] Schulz sagte:

… hinter diesem Beschluss stehe eine Mehrheit von über 500 Abgeordneten. „Ich hoffe, dass die EVP Juncker als Kandidaten nominieren und der Rat das respektieren wird.“

In der Wahlnacht hatte Schulz gesagt, er wolle „auch eine Initiative ergreifen, um eine Mehrheit für mein Programm zu finden“ - und sich zum Kommissionspräsidenten wählen zu lassen. Schulz gibt auch jetzt noch nicht ganz auf. Sollte Juncker kein Mandat bekommen, wäre der nächste in der Reihe der Kandidaten am Zug, fügte Schulz hinzu. „Und das bin ich.“[11]

Mehr dazu in einem Folgeartikel. Dabei soll es vor allem auch um das Wahlergebnis in Deutschland gehen.

Abwärtstrend bei der Wahlbeteiligung gestoppt, aber zum Teil noch krassere Differenzen zwischen den verschiedenen Staaten als 2009

Die Wahlbeteiligung auf EU-Ebene sank diesmal nicht weiter ab, sondern stabilisierte sich bei 43,09 Prozent. 2009 waren es 43,0 Prozent. Entgegen dem Trend stieg die Wahlbeteiligung in Deutschland deutlich an von 43,3 Prozent (2009) auf jetzt 47,9 Prozent. Auch das wird zu bewerten sein. Das Handelsblatt schrieb zur Wahlbeteiligung:

Eine gestiegene Wahlbeteiligung verzeichneten etwa auch das politisch nach rechts gerückte Frankreich mit 43,4 Prozent (2009: 40,6 Prozent), das europaskeptische Großbritannien mit 36,0 Prozent (2009: 34,7 Prozent) oder das krisengeschüttelte Griechenland mit 57,4 Prozent (2009: 52,6 Prozent).

In mehreren osteuropäischen Staaten war das Interesse hingegen gering: In der Slowakei gingen 13 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung nach knapp 20 Prozent vor fünf Jahren. In Tschechien lag die Beteiligung bei 19,5 Prozent, nachdem sie 2009 noch bei 28 Prozent gelegen hatte. In Slowenien beteiligten sich 21 Prozent der Wähler, dort hatte der Wert bei den letzten Wahlen bei 28,3 Prozent gelegen.[12]

Wir wollen diese Fakten hier lediglich vorlegen, zur Interpretation bräuchte man genaue Kenntnisse über die politische Lage in den jeweiligen Ländern.

Mit der Rechtsentwicklung in Europa, über die schon vor den Wahlen viel gesprochen wurde und die ja auch großenteils eingetreten ist, konnten wir uns in diesem Artikel nicht befassen. Für einen guten Überblick empfehlen wir den Artikel in der jungen Welt „Rechte Internationale“ von Markus Bernhardt.[13] Der Autor stellt darin fest, dass die etablierte Politik keine schlüssigen Erklärungen für das europaweite Erstarken der extremen Rechten habe – ist aber offensichtlich selbst auch ratlos angesichts dieses Phänomens.

Peter Feininger, 2. Juni 2014

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Alle Artikel zum Thema EU-Wahlen 2014 finden sich hier http://www.forumaugsburg.de/s_3themen/Europa/index.htm

 

1] „In Europa triumphieren die Populisten“, Der Tagesspiegel Online, 26-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.tagesspiegel.de/politik/eu-wahl-in-europa-triumphieren-die-populisten/9948860.html. [Zugegriffen: 30-Mai-2014].

2] E. Simantke, G. Höhler, und M. Thibaut, „Eurokritische Parteien dürfen künftig stärker mitbestimmen“, Der Tagesspiegel Online, 25-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.tagesspiegel.de/politik/extreme-alternativen-bei-der-europawahl-eurokritische-parteien-duerfen-kuenftig-staerker-mitbestimmen/9948454.html. [Zugegriffen: 30-Mai-2014].

3] Empörte lassen Sozialisten alt aussehen, neues deutschland, 28-Mai-2014

4] „Der neue Hollande, Handelsblatt“, 15-Jan-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.handelsblatt.com/politik/international/der-politische-kurs-in-frankreich-der-neue-hollande/9335878.html. [Zugegriffen: 01-Juni-2014].

5] Siehe hierzu den sehr aufschlussreichen Artikel „Frankreichs Abstieg. Die deutsche Dominanz treibt die Europäische Union »in den Zusammenbruch«, warnt ein Banker in Paris. Das Nachbarland soll eben auch Hartz IV einführen, fordert Berlin, Von Jörg Kronauer, junge Welt“, junge Welt, 16-Nov-2013. [Online]. Verfügbar unter: http://www.jungewelt.de/2013/11-16/015.php. [Zugegriffen: 31-Mai-2014].

6] „Sozialdemokraten im Aufwind. PD gewinnt Wahlen zum EU-Parlament in Italien. Berlusconi-Partei abgestürzt, Gerhard Feldbauer“, junge Welt, 28-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.jungewelt.de/2014/05-28/030.php. [Zugegriffen: 31-Mai-2014].

7] „Cohn-Bendit greift Martin Schulz wegen Wahlplakat an - SPIEGEL ONLINE“, 27-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/cohn-bendit-greift-martin-schulz-wegen-wahlplakat-an-a-971849.html. [Zugegriffen: 31-Mai-2014].

8] „EU-Kommissionspräsident: Merkel legt sich auf Juncker fest - SPIEGEL ONLINE“, 30-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/eu-kommissionspraesident-merkel-legt-sich-auf-juncker-fest-a-972535.html. [Zugegriffen: 31-Mai-2014].

9] E. Bonse, „Machtkampf um die EU-Kommission“, Telepolis, 28-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.heise.de/tp/artikel/41/41880/. [Zugegriffen: 01-Juni-2014].

10] „Juncker als EU-Kommissionspräsident: Mehrheitssuche im Europaparlament - SPIEGEL ONLINE“, 27-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/juncker-als-eu-kommissionspraesident-mehrheitssuche-im-europaparlament-a-971969.html. [Zugegriffen: 31-Mai-2014].

11] Ebd.

12] „Abwärtstrend bei Wahlbeteiligung gestoppt, Handelsblatt online“, 26-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.handelsblatt.com/politik/international/europawahl-abwaertstrend-bei-wahlbeteiligung-gestoppt/9948796.html. [Zugegriffen: 31-Mai-2014].

13] „Rechte Internationale, von Markus Bernhardt, junge Welt“, junge Welt, 28-Mai-2014. [Online]. Verfügbar unter: http://www.jungewelt.de/2014/05-28/004.php. [Zugegriffen: 02-Juni-2014].


   
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